Ein Nachruf von Klaus Marquardt

Abschied von Ilse Wagenschütz

3. August 2017 | Gesellschaft

Bis zu ihrem Tod hat sie sich aktiv für die Belange von psychisch kranken Menschen stark gemacht. Mit einem Nachruf im Stadtmagazin inherne erinnert ihr langjähriger Freund Klaus Marquardt an die großen Verdienste und würdig das unermüdliche Engagement der Verstorbenen:

Klaus Marquardt: "Am 23. Juli 2017 ist meine Freundin, die Neurologin, Psychiaterin und Psychotherapeutin Ilse Wagenschütz im Alter von 75 Jahren gestorben. Bis zu ihrem Ausscheiden vor zehn Jahren leitete sie im städtischen Gesundheitsamt den Sozialpsychiatrischen Dienst. Bevor sie diese Aufgabe 1993 angetreten hatte, war sie als niedergelassene Ärztin u. a. im Landkreis Osnabrück und in Wanne tätig gewesen.

Ilse Wagenschütz hat das Wort „Inklusion" sehr ungern in den Mund genommen. Für sie war es nur eine weitere Begriffshülse, welche die reale Ausgrenzung psychisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft bemänteln solle. Nicht zuletzt mit ihrem Arbeitgeber lag sie in solchen und ähnlichen Fällen häufig überkreuz. Tatsächlich hat sie sich ganz handfest und pragmatisch für Inklusion eingesetzt, als es die UN-Behindertenrechtskonvention noch gar nicht gab und kaum jemand damit rechnen konnte, dass es sie irgendwann einmal geben würde. Dieser Einsatz wirkt in Herne bis heute nach – hierfür sei auch ihrem Team ganz herzlich gedankt! – und hat buchstäblich vielen hundert Menschen in dieser Stadt erspart, staatliche und ärztliche Gewalt zu erfahren.

In allen Bundesländern existieren sogenannte Psychisch-Kranken-Gesetze, die es ermöglichen, Menschen bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung auch gegen ihren Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus geschlossen unterzubringen (Zwangseinweisung) und zu behandeln (Zwangsbehandlung). Schon lange von Betroffenenverbänden kritisiert, mussten und müssen diese Gesetze nach Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention geändert werden. Die Novellierung des „Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten" in Nordrhein-Westfalen ist erst im vergangenen November vom Landtag beschlossen worden und zum Jahresbeginn 2017 in Kraft getreten.

Wie sich die darin beschlossene Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der Patienten und die Ausweitung der richterlichen Überprüfung von Unterbringung und Behandlung auswirken werden, bleibt noch abzuwarten. Bereits unter den alten Regelungen hat es enorme Anwendungsunterschiede zwischen den Kommunen gegeben. Dabei spielten die kommunalen Ordnungsbehörden eine wichtige Rolle, die Entscheidungspraxis der örtlichen Amtsgerichte, die gemeindepsychiatrischen Einrichtungen mit ihrer „Philosophie" und ihrer Zusammenarbeit untereinander, nicht zuletzt aber auch der Sozialpsychiatrische Dienst. Ilse Wagenschütz hat die gerichtlich angeordnete Unterbringung psychisch Erkrankter immer als Ultima ratio verstanden, als letztes zu ergreifendes Instrument, wenn alle anderen Hilfen versagt haben. Deshalb hat sie in jedem einzelnen Fall den menschlich-persönlichen Kontakt gesucht, für Einsicht in die Notwendigkeit einer freiwilligen Behandlung geworben, Auffangmöglichkeiten im sozialen Umfeld und bei den Herner Einrichtungen und Diensten ermittelt, um eine Gewaltanwendung überflüssig zu machen. Sie war sich darin einig mit Matthias Krisor, dem früheren Chefarzt des St. Anna Hospitals in Eickel, und seinem Konzept der „gewaltfreien", tatsächlich: gewaltarmen, Psychiatrie.

Das Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LzG; früher: Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit – LIGA bzw. Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst – lögd) sammelt seit dem Jahr 2000 auf der Grundlage freiwilliger Angaben der Kreise und kreisfreien Städte in NRW Fallzahlen der Zwangseinweisungen. So ist ein Kommunalvergleich auf der Grundlage einer standardisierten Kennziffer möglich: der Unterbringungsfälle je 100.000 Einwohner. In der folgenden Abbildung wird die Entwicklung dieser Quote in den Ruhrgebietsstädten seit dem Jahr 2000 abgebildet.

Die Quote bewegt sich in Herne im ganzen Beobachtungszeitraum zwischen 30 und 40 Zwangseinweisungen je 100.000 Einwohner. Unter allen kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens weist die Stadt damit fast durchgängig den geringsten Wert auf, nur in einzelnen Jahren liegt die Quote in der Nachbarstadt Bochum noch darunter. Hätte Herne dem Durchschnitt der kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen entsprochen (150-170 Zwangseinweisungen je 100.000 Einwohner), wären in der Summe der 16 Jahre nicht nur in 986 Fällen Menschen gegen ihren Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden, sondern rund 4.200 Mal.

Das bleibt!

Ilse Wagenschütz hat nicht nur selbst durch ihren Einsatz mitgeholfen, dass Zwangseinweisungen in Herne nur als allerletztes Mittel eingesetzt wurden. Wie die Entwicklung nach ihrem Abschied 2007 ausweist, ist es ihr auch gelungen, ein Team zu formen, das sich dieses Ziel zu Eigen gemacht hat, das sich weiterhin Zeit nimmt und zu überzeugen versucht. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass es ausreichend Personal gibt, um sich die notwendige Zeit überhaupt nehmen zu können. Sie hat Ermessensspielräume zu Gunsten von Kranken genutzt und ihrem Team menschliche Maximen gesetzt: „Gehen Sie zum Äußersten – reden Sie mit dem Betroffenen!" (statt über ihn); „Lieber ein Hausbesuch zu viel als einer zu wenig!"; „Wenn keiner zuständig ist, sind wir zuständig!"

Ilse Wagenschütz war in Fragen, die sie für sich beantwortet hatte, hartnäckig und dickköpfig. Auch dies hat ihr Team erfahren, ihre Vorgesetzten, aber auch ihre Freunde und ihre Familie. Sie zog Konsequenzen und sie ertrug Konsequenzen. Und sie war eine treue Freundin. Nachdem sie sich im Hospiz in Oberhausen von ihrer Familie verabschiedet hatte, ging sie den allerletzten Weg allein. So war sie."