Winfried Koçea zum 85. Geburtstag

Der legendäre Musiklehrer mit den gewaltigen Augenbrauen

3. Mai 2017 | Gesellschaft Kultur

Auch jetzt, mit 85 Jahren, ist er noch aktiv, leitet bei Bedarf Schülerprojekte, in denen Mädchen und Jungen selber Lieder verfassen und diese bei einem Konzert vortragen. Um seine Verdienste aufzuzählen, reichen die Finger beider Hände nicht. Mit seinem wegweisenden Programm "Die singende Grundschule" hat er seit 1997 wöchentlich etwa 1.000 Grundschüler zum Singen begeistert. 1968 führte er die Arche Noah von Benjamin Britten auf dem Sängerbundesfest in Stuttgart mit 5.000 jugendlichen Chorsängern und Musikern auf. Über 4.000 Schüler führte er zum Abitur, über 1.000 Chorleiter für Kinder- und Jugendchöre bildete er aus. Er gründete die Deutsche Sängerjugend Anfang der 60-er und leitete sie als Bundeschorleiter. Koçea war auch der Erfinder der Jugendkunstschulen (JKS) in den 70-er Jahren, von denen heute über 200 existieren. 1983 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. "Er hat die deutsche Kulturlandschaft über 50 Jahre lang maßgeblich auch immer wieder mit avantgardistischen Chorexperimenten befruchtet, die uns heute selbstverständlich erscheinen", sagt Karl Adamek in seiner Hommage zum 85. Geburtstag.

Horst Martens

Ausdrucksstark, nicht nur wegen seiner gewaltigen Augenbrauen: Winfried Winfried Koçea. © Privat / Archiv Berke Ausdrucksstark, nicht nur wegen seiner gewaltigen Augenbrauen: Winfried Winfried Koçea. © Privat / Archiv Berke

Der Journalist Wolfgang Berke hat uns Fotomaterial und Texte aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt. Dazu gehört auch folgender Artikel:

Winfried Koçea: „Ackermann! Ich wisch mit dir die Tafel aus!“

Die Klassentür springt auf, im Bogen fliegt ein Timer durch den Türrahmen und klatscht satt aufs Lehrerpult. Ein Schlüsselbund klirrt hinterher. Dann zunächst einige Sekunden gar nichts, bis sich ein Bauch durch die Türöffnung schiebt, der sich endlich zu Winfried Koçea rundet. Wann immer der Musiklehrer in seinen 44 Jahren am Gymnasium Eickel einen Klassenraum betrat, nein, in Besitz nahm, war die Reaktion der Schüler stets die gleiche. Die Unterstufe hatte Angst, die Mittelstufe allergrößten Respekt. Bei der Oberstufe löste das musikalische Schwergewicht dann Anerkennung bis Begeisterung aus, je nachdem, wie sehr den Schüler Musik grundsätzlich interessierte.

Winfried Koçea war überhaupt kein richtiger Lehrer. Er war und ist auch kein richtiger Wanne-Eickeler, er lebte stets und lebt immer noch in seinem Geburtsort Xanten und ist eigentlich nur durch eine Verkettung von Zufällen in Wanne-Eickel gelandet. Aber hier konnte er mit Tausenden arbeiten, konnte seine Ideen umsetzen und bleibende Spuren hinterlassen, die Wanne-Eickel im Bereich der musikalischen Förderung ganz weit nach vorne brachten.

Koçeas Vater, ein Kapellmeister, starb früh und hinterließ Chöre, vor denen dann plötzlich der junge Winfried stand, der so schnell eigentlich nicht in die väterlichen Fußstapfen treten wollte. Als er sich dann während des Studiums an der Folkwangschule ein paar Mark dazuverdienen musste, erfuhr er, dass die Sängervereinigung Röhlinghausen dringend einen neuen Chorleiter suchte. Kocea trat an, „für ’nen Rollmops und ein paar Stullen“. Sein Talent sprach sich herum, und wenn es sich nicht von alleine herumsprach, half Koçea eben selbstbewusst nach.

Am Jungengymnasium suchte man händeringend einen Musiklehrer. Winfried Koçea war zwar keiner, konnte es aber viel besser und durfte es per Sonderregelung dann sogar sein. Seine fixe Idee war es, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern bei den jungen Leuten Begeisterung für die Musik zu wecken, „Schmetterlinge zu fangen“, ihnen auch neben der Schule eine Fülle von fördernden Angeboten zu schaffen. Dafür musste er verkrustete Strukturen aufbrechen, Mitstreiter suchen und immer wieder überzeugen.

Wer nicht zuhörte im Unterricht oder gar störte, konnte seinen heiligen Zorn wecken. Wenn er den betreffenden Schüler mit „Ackermann!“ ansprach, war höchste Alarmbereitschaft geboten, wenn er gar drohte, mit betreffendem „Ackermann!“ die Tafel auswischen zu wollen, sollte man diese Ankündigung verdammt ernst nehmen. Winfried Koçea schaffte es, selbst große und renitente Klassenverbände ruhig zu bekommen. Zur Freude des Kollegiums, das ihm bei Lehrerausfall die eine oder andere Klasse zur Vertretung gab. Mehrere bisweilen, so dass Koçea schon mal mit 70, 80 Schülern in die Aula auswich.

Hier kam es dann häufig zu der Inszenierung „Dieser Bauch ist kein Bauch, sondern ein wichtiger Resonanzkörper, eingebettet in konzentrierte Muskelmasse.“ Pianos schossen über die Bühne, Schüler purzelten vom Lehrerbauch – und danach wagte niemand mehr zu sagen, Winfried Koçea wäre dick. Schüler, die ihm zuhörten, mitmachten, sich für Musik begeistern ließen, gingen mit diesem ungewöhnlichen Lehrer auf spannende Touren, entdeckten ihre musikalischen Fähigkeiten und wurden von Koçea auch nach Schulschluss gefördert.

Wollte ein Schüler ein Instrument lernen, beschaffte Winfried Koçea es ihm zum Sonderpreis. Hatten die Eltern des Schülers wenig Geld, akzeptierte er Ratenzahlung, hatten sie verdammt wenig Geld, griff er in die eigene Tasche – oder schnorrte bei Heitkamp, dessen Chor und Orchester er natürlich auch bisweilen dirigierte. Koçeas Nachwuchsförderung machte Schule. Er gründete in Wanne-Eickel die Junge Chorgemeinschaft, die später zum Modell der Jugendförderung des Deutschen Sängerbundes wurde. Die Junge Chorgemeinschaft sang natürlich nicht nur, sie machte Reisen, organisierte Veranstaltungen, hatte Orchester und Bigband, integrierte Beat- und Rockgruppen ebenso wie Jazzformationen.

Winfried Koçea richtete über Jahre den Landeswettbewerb Jugend singt aus, betreute Kirchenchöre, Gesangsvereine, Werksorchester und Schülergruppen. 1972 hatte er endlich genügend Mitstreiter gefunden, um seine Idee einer Jugendkunstschule zu verwirklichen. Kunst als Medium zur Persönlichkeitsbildung, frühe Förderung in allen musischen Bereichen: So etwas hatte Wanne-Eickel noch nicht gesehen, so etwas hatte ganz Deutschland noch nicht gesehen. Mit einer spektakulären Malaktion über die gesamte Hauptstraße, die allerdings etwas über den geplanten Rahmen hinausschoss, eröffnete im Oktober 1972 die JKS.

Noch heute freut sich der 70-Jährige spitzbübisch über die Aufregung und Proteste, die damit ausgelöst wurden, das wilde Geschrei von Stadtoberen und Politikern. Inzwischen geht die Jugendkunstschule in ihr 32. Jahr. Winfried Koçea ist seit fünf Jahren „pensioniert“ und hat endlich Zeit für sein Projekt „Singende Grundschule“, Lehrerfortbildung inklusive. Natürlich kümmert er sich auch noch weiter um seine Chöre. „Aber es sind nicht mehr so viele.“ Und wie viele sind es noch? „Weniger als 20 ...“

Archiv: Wolfgang Berke