Herner Redakteure sprechen über die Medien von morgen

Die Zukunft ist online

22. Februar 2019 | Gesellschaft

Gesprächsteilnehmer: WAZ: Michael Muscheid (Redaktionsleiter) / halloherne: Carola Quickels (Gründungsmitglied/Gesellschafterin), Patrick Mammen (Redaktionsleiter) / Radio Herne: Christine Schindler (Chefredakteurin)

inherne: Anja Gladisch, Nina-Maria Haupt, Christoph Hüsken, Horst Martens, Michael Paternoga

Aufgezeichnet von Horst Martens

  • Christine Schindler von Radio Herne kam zum Interview ins Herner Rathaus. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

inherne: Die Medienfront verändert sich rasant. Was heute hipp ist, ist morgen out. Was glauben Sie, gibt es Sie auch noch in zehn Jahren?

Quickels: Ich denke, dass wir mit unserem Online-Portal ein Stück weit die Nase vorn haben. Das war sicher, als wir vor neun Jahren gestartet sind, anders. Viele Menschen waren noch printverhaftet. Doch das ändert sich: Die Leser wandern von Print zu Online.

inherne: Was ist in zehn Jahren …

Schindler: Ja, uns wird es auch noch geben. Die Medienwelt verändert sich ja schon seit einiger Zeit. Deshalb gibt es uns nicht nur im kleinen Küchenradio, sondern wir haben unsere App, über die man uns hören kann, „Alexa", Radio-Player, Tune-In usw., wir haben auch unsere Web-Channels. Da hat sich schon einiges getan, und es wird sich noch mehr ändern. In diesem Jahr schalten wir zum Beispiel eine komplett neue Internetseite frei. Wobei wir keine Selbstverständlichkeit sind. Häufig glauben die Menschen, dass wir uns durch GEZ-Gebühren finanzieren. Manche glauben, wir sind das Audio-Amt der Stadt und werden finanziert durch Steuergelder, aber wir sind ein Privatradio und leben von Werbeeinnahmen.

Muscheid: Auch uns wird es in zehn Jahren geben. Wir sind schon jetzt auf allen Kanälen präsent. Aber was sich durchsetzen wird, bleibt ein bisschen wie eine Wundertüte. Zeitungsleser (Print) werden wir nicht mehr so viele haben, aber wir gewinnen immer mehr Onlineleser.

inherne: Die Medienwissenschaftlerin Wiebke Möhring hat gesagt: In zehn Jahren ist die Druckausgabe nur was für das Bildungsbürgertum. Würden Sie das unterschreiben?

Muscheid: Der Trend geht dahin, und wir sind auch darauf eingerichtet. Aber natürlich machen wir journalistische Inhalte für alle Menschen. Unter dem Motto „User first" werden wir in Zukunft noch viel stärker online arbeiten. Gleichzeitig soll der Leser, der möchte, auch noch eine Printzeitung bekommen.

inherne: Hat das auch strukturelle Änderungen zur Folge?

Muscheid: Wir werden uns neu aufstellen – ein bisschen nach dem angelsächsischen Reporter-Editor-Modell. Wir teilen unser Team in Reporter und Editoren auf. Die Reporter (in Herne) schreiben die Texte, und die Editoren (in Bochum) bauen die Seite.

inherne: Und wann wird das neue Modell umgesetzt?

Muscheid: In der Zentrale in Essen und in den ersten Lokalredaktionen ist das Vorhaben im Januar gestartet. Sukzessive werden alle Redaktionen umgebaut. Künftig ist es nicht mehr Aufgabe der Reporter, wie die Zeitung gestaltet wird.

inherne: Die Editoren sitzen nicht in Herne?

Muscheid: Nach jetzigem Stand sitzen die Editoren in Bochum.

Quickels: Könnt Ihr euch aussuchen, ob Ihr Editoren werdet oder Reporter?

Muscheid: Die Ausschreibung läuft.

inherne: Wie läuft es mit der Stellenbesetzung?

Muscheid: Der eine macht lieber Innendienst, der andere will lieber draußen Geschichten ausgraben. Es bleibt nun abzuwarten, wer sich für welche Aufgabe interessiert. Rein rechnerisch werden ein bis zwei Kollegen zum Editorenteam wechseln.

inherne: Wirkt sich die Technisierung auch auf Inhalte aus?

Muscheid: Auf meinem Monitor im Büro kann ich zu jeder Sekunde sehen, wie viele Menschen unsere Texte lesen. Ich kann auch feststellen, für welche Themen sich unsere Leser interessieren, darunter fallen auch Themen, die wir noch nicht im Blick haben. Ich kann erkennen, welches Thema gerade wichtig ist, dann schreiben wir (noch mal) darüber.

Das Wochenblatt Herne

Neben den hier vorgestellten tagesaktuellen Medien erfreut das zweimal wöchentlich erscheinende Wochenblatt die Leser der Stadt. Auf dessen Unterstützung zählt auch das Stadtmagazin „inherne", denn die Publikation des Pressebüros der Stadt wird seit 2014 als Beilage dieser Zeitung geliefert und gelangt auf diese Weise in mehr als 80.000 Haushalte. Laut Verkaufsleiter Björn Büttner liegt der Schwerpunkt des Wochenblattes auf Bürger- und Verbrauchernähe: „Wir bieten unseren Leserinnen und Lesern im Blatt, in unserer Nachrichtencommunity lokalkompass.de
und auf unseren Kanälen in den Sozialen Netzwerken wichtige lokale Informationen und Services."

In Zukunft gelte es, „das Ohr weiterhin ganz nah am Bürger" zu haben. Björn Büttner sagt dazu: „Wir müssen wissen, was die Menschen vor Ort bewegt und was für sie wichtig ist, damit wir auf all unseren Kanälen bestmögliche Orientierung im lokalen Lebensalltag bieten können. Das ist unser Anspruch."

Quickels: Unsere Zahlen zeigen, dass wir bis jetzt alles richtig gemacht haben. Wir wollen uns darauf natürlich nicht ausruhen. Die Planung für die Zukunft ist, mehr Werbung reinzubekommen und einen dritten Journalisten einzustellen, um effektiver zu arbeiten. Im Augenblick sind wir zu zweit und wenn einer von uns Urlaub hat oder krank ist, dann steht der andere alleine in der Redaktion.

Schindler: Im Bereich der Channels wird sich einiges tun in nächster Zeit, aber unser erstes große Projekt in diesem Jahr ist die neue Internetseite.

inherne: Welche Funktion hat denn so ein Medium in der Stadtgesellschaft – online, als Print oder in Radioform?

Mammen: Wir machen Nachrichten für die Stadt. Auf unserer Seite laufen häufig Sachen gut, mit denen man nicht rechnet. Wenn Hotte Schröder mit seinen Sunrise-Kids auftritt, dann denkst du, das macht er jetzt schon zum 150. Mal. Wenn du dann die Klickzahlen siehst, denkst du: Wow!

Ich denke dann an den Mord an dem kleinen Jaden vor zwei Jahren. Da haben wir alle regelmäßig darüber berichtet. Die Berichte haben uns riesige Klickzahlen beschert. Eine traurige Geschichte – aber die Leser hat sie berührt.

Schindler: Viele Dinge werden durch uns erst wahrnehmbar. Oder viele Akteure werden wahrnehmbar. Wir sind Multiplikatoren. Und ein bisschen tragen wir auch zum Image bei. Wir haben drei eigene Medien für unsere Stadt, wenn man so will, das ist schon gut, allein die Vielfalt.

Muscheid: Unsere Aufgabe sehe ich darin, dass wir das Stadtgeschehen kritisch beleuchten. Wir wollen die Geschehnisse einordnen und hinterfragen. In den heutigen Zeiten von social media und insbesondere Facebook wollen wir den Menschen aber auch sagen, ob die Nachrichten stimmen und wie wichtig sie sind.

inherne: Ist das der Grund, warum man den Lokaljournalismus noch braucht und warum es nicht mit Facebook posten und ein bisschen twittern getan ist?

Mammen: Es geht um das Einordnen der Fakten. Die Kommentare auf Facebook sind streckenweise unerträglich. Deshalb müssen wir vernünftige Fakten vermitteln, damit die Leute aufgeklärt werden.

Quickels: Heftige Sachen nehmen wir von unserer Facebook-Seite, die lassen wir nicht einfach so stehen.

Muscheid: Wenn sich jemand auf unseren Facebook-Seiten negativ austobt, erhält er die rote Karte.

inherne: Wie gehen Sie mit Fake News und Hasskommentaren um?

Mammen: Wenn es richtig derbe wird und man es nicht mehr tolerieren kann, heißt es: Auf Wiedersehen!

Muscheid: Wir laden unsere Leser zu Diskussionen ein und freuen uns darüber.
Aber auf unserer Seite muss man sich benehmen, wir haben eine Netiquette aufgestellt.

Schindler: Wir haben auch so eine Hausordnung. Es ist immer wieder sowas von frustrierend und ärgerlich. Es brechen alle Dämme. Was da für ein rauer und verletzender Ton herrscht!

Quickels: Der ist zum Teil unter der Gürtellinie.

Schindler: Deshalb gilt: unsere Seite, unsere Regeln.

Quickels: Leserbriefe kann man uns gerne schicken, aber dann nur mit vollem Namen und Telefonnummer. Also mit Nicki24 schicken wir nichts in die
Welt hinaus.

Muscheid: Wir veröffentlichen auch keine Pseudonyme: Leserbriefe und Onlinestimmen erscheinen mit vollem Namen.

inherne: Wieviel Nähe zu Entscheidungsträgern halten Sie für verantwortbar?

Schindler: Nähe kann exklusive Informationen oder exklusive Geschichten bringen. Wenn es aber dazu führt, dass man nicht mehr objektiv berichten kann, dann ist Nähe schlecht.

Quickels: Man sollte immer eine professionelle Rollendistanz wahren und sich selber einschätzen können. Dann kann ich auch mit einem Entscheidungsträger ein Glas Bier trinken gehen.

Muscheid: Gerade im Lokalen ist es wichtig, dass man die Menschen kennt, mit denen man spricht, dass man die Gesprächspartner einschätzen kann – sei es nun der Fraktionschef oder der Parteichef, der Dezernent oder auch der Oberbürgermeister. Aber die Distanz müssen wir wahren, auf keinen Fall dürfen wir uns mit den Entscheidungsträgern gemein machen.

inherne: Wie sehr beeinflusst das Feedback Ihre Berichterstattung? Besteht nicht die Gefahr, dass wichtige Teile, die weniger häufig geteilt werden, irgendwann komplett wegfallen?

Muscheid: Ich glaube nicht. Wir schauen nicht nur auf die Klickzahlen, auf unsere Dashboards, sondern auch, welche Pressegespräche angeboten werden, entscheiden da, ob etwas wichtig ist, ob wir dahin gehen. Aber natürlich machen wir es auch so, wie die Journalisten es immer machen: Nach gesundem Menschenverstand gehen wir an die Themen ran und gucken, was für unsere Leser relevant sein könnte.

Schindler: Uns sind Reaktionen und Feedback natürlich wichtig. Und zwar nicht nur reine Zahlen, auch Nachrichten von Usern oder Facebook-Kommentare, wobei man uns ja über unsere App auch direkt Audio-Nachrichten ins Studio schicken kann. Aber außerdem überlegen wir auch: Was ist heute wichtig? Was wollen wir auch gerne erzählen? Genauso wie wir uns fragen: Was bewegt die Menschen heute? Worüber wollen wir mit denen reden?

Mammen: Bedingt durch unsere personelle Situation (nur zwei Redakteure, Anm. d. R.) müssen wir überlegen: Was können wir übernehmen, welche Geschichten können wir selbst recherchieren und zu welcher Pressekonferenz gehen wir? Dabei richten wir uns ganz strikt danach, was den Leser interessiert.

inherne: Ist nicht die Gefahr gegeben, dass sich dann besonders emotionale Inhalte eher durchsetzen?

Muscheid: Emotionale Geschichten sind wichtig, werden gerne gelesen. Zum Beispiel die Geschichte über die Schlossverhüllung, die wir meines Wissens auch als erste hatten. Viele Brautleute waren entsetzt, weil sie auf das schöne Schloss als Hintergrund verzichten mussten. Aber man darf natürlich auch nicht trivial werden.

inherne: Was halten Sie von Bezahlschranken? Wird es in Zukunft noch mehr geben oder vielleicht sogar weniger?

Quickels: Für uns wäre es anfangs eine Option gewesen, um schneller an Geld zu kommen. Aber heute ist das für uns kein Thema mehr. Was wir seit neun Jahren kostenlos anbieten, dafür können wir nicht plötzlich Geld nehmen.

Muscheid: Wir haben vor ein paar Jahren mit der Bezahlschranke angefangen und werden in den nächsten Monaten immer mehr am Schräubchen drehen. Unsere Geschichten müssen wir ja finanzieren können. Wir machen einen sehr guten Journalismus und den wollen wir – bitte – auch bezahlt bekommen.

inherne: Können Medien nur überleben, wenn sie mehrere Kanäle betreiben?

Schindler: Das ist ja nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern eine natürliche Entwicklung.

Muscheid: Den klassischen Zeitungsleser gibt es heute ja gar nicht mehr. Die Menschen lesen unsere Artikel im Bus, in der Bahn, sie scrollen, schauen schnell mal drauf, wollen immer wieder etwas Neues erfahren, den ganzen Tag über von morgens bis abends. Und dann gibt es noch die Menschen, die Zeitung lesen wollen. Deshalb müssen wir auf allen Kanälen vertreten sein – und das auch professionell.

inherne: Der Beruf des Journalisten wird ja oft als Traumberuf bezeichnet. Kann man jungen Menschen auch heute noch sagen: Werdet Journalist?

Quickels: Heute wird man Influencer. (lacht)

Muscheid: Ich würde es immer noch machen. Es war mein Traumberuf von Kindesbeinen an. Ich würde jedem empfehlen, den Beruf anzustreben, aber nicht mit dem Ziel, allein für eine Zeitung zu arbeiten. Das Tätigkeitsfeld der Zukunft ist Online-Journalismus.

Mammen: Die Frage war ja, ob ich es empfehlen würde: nein. Ob ich es wieder machen würde: ja.