Handwerksbetrieb in Holsterhausen stellt sich in vielen Facetten seiner sozialen Verantwortung

Familie Seidich schaf(f)t fast alles

26. Juli 2017 | Gesellschaft Wirtschaft

Neben Schäftemacher und Schuhmachermeister Hartmut Seidich (54) und Ehefrau Tanja (45) steht auch schon vierte Generation mit an der Werkbank: Sohn Dustin (22) und Schwiegersohn Jan Droste (27), die beide 2016 erfolgreich ihre Schuhmacher-Gesellenprüfung abgelegt haben.

Werkstatt ist ein kleines Museum

  • Dritte und vierte Generation: Hartmut Seidich, Jan Droste und Dustin Seidich. © Frank Dieper, Stadt Herne.
Die Werkstatt der Familie Seidich „Werkstatt" zu nennen, ist eine Untertreibung. Sie ist eine Schatzkammer, ein kleines Museum. Überall finden sich alte Werkzeuge, die vom Vater und Großvater stammen. Vieles, was zu sehen ist, waren Exponate der „Schuhtick-Ausstellung" der Landesmuseen.

In reiner Handarbeit werden Oberteile von Schuhen (Schäfte) angefertigt – also alles, was man oberhalb der Sohle von einem Schuh sieht. Zirka 1.500 dieser „halben Schuhe" stellt der Wanne-Eickeler Handwerksbetrieb mit seinem neunköpfigen Team jährlich her, „70 Prozent für orthopädische Schuhe, 30 Prozent für Maßschuhe", so Hartmut Seidich.

Zwischen Funktionalität und Ästhetik

Der Alltag im Dienst der Patienten sind Auftragsarbeiten wie zum Beispiel für das „Care Center" im Bochumer Bergmannsheil, für das die Wanne-Eickeler Handwerker seit 30 Jahren Schäfte anfertigen. „Das sind in der Regel schwere orthopädische Fälle, vom verunfallten Bergmann bis zur russischen Journalistin, die sich bei einem Helikopter Absturz verletzt hatte". Hier ist eine gelungene Kombination zwischen Funktionalität und Ästhetik das Ziel, denn Orthopädische Schuhe sollten möglichst nicht als solche wahrgenommen werden.

Bei Aufträgen für Schuhliebhaber kommt es dagegen mehr auf den Schnitt, das Design und hochwertige Materialien an. Handgefertigte Schuhe können bei guter Pflege ohne Probleme zehn Jahre getragen werden, oft sogar 20 Jahre und mehr. Die Schäfte werden nicht nur an deutsche Kunden geliefert, sondern auch nach England und Irland.

Fairness. Transparenz, Verantwortung. Bewusstes Handeln. Werte, die sich jeder Arbeitnehmer in seinem beruflichen Umfeld wünscht. Doch wo gibt es dies noch in Zeiten der „Global Player", der Profitsteigerung um jeden Preis, der kühl kalkulierenden Management-Etagen? Die inherne-Redaktion hat sich auf die Suche gemacht und präsentiert in einer kleinen Serie Herner Unternehmer, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind.

Orthopädische Schuhe und elegante Maßschuhe

Orthopädische Schuhe, die „man heute als solche gar nicht mehr erkennt", und extravagante Maßschuhe – wie passt das zusammen? Für Seidich kein Problem, denn „wir haben tagtäglich die Kluft zwischen Bedürftigen und Wohlhabenden live auf der Werkbank liegen.

Schuhe mit unseren Schäften findet man an den Füßen von Minenopfer in Krisengebieten, aber auch an denen von Hollywood-Stars. Das sind Extreme, aber auf der einen Seite arbeiten wir für Menschen, die ohne orthopädische Schuhe keinen Schritt laufen können. Auf der anderen für Schuhliebhaber, die echtes Handwerk noch wertschätzen und sich den Luxus von handgefertigten Maßschuhen leisten können. Letzteren verdanken wir es, dass wir in speziellen Fällen unbürokratisch helfen können".

Jaron aus Johannesburg

Zum Beispiel im Fall „Jaron". Dem bald fünfjährigen Jungen, der in der Nähe von Johannesburg in Südafrika lebt, fehlt seit der Geburt der linke Vorfuß. Ärzte schlugen der Mutter die Amputation des linken Unterschenkels vor, da der Junge sich mittelfristig durch das „Humpeln" das Knie- und Hüftgelenk geschädigt hätte. Micha Tolken, eine Orthopädie-Schuhmacherin in Durban, die Jarons Mutter in ihrer Not aufsuchte, kümmerte sich um den Fall und nutzte ihre langjährigen Kontakte zu der Herner Werkstatt. Jaron ist nicht krankenversichert und auch die Amputation hätte die Mutter selber zahlen müssen. Hartmut Seidich erinnert sich: „Als wir von dem Fall erfuhren, sagten wir sofort unsere Hilfe zu. Wir zogen noch weitere Experten hinzu, unter anderem Nadine Raabe, angehende Orthopädie-Schuhmachermeisterin im Bergmannsheil Bochum. Gemeinsam entwickelten wir nach einem Gipsabdruck, den uns Micha Tolken aus Südafrika geschickt hatte, einen Innenschuh mit verstärkten Kappen, die Jarons linke Knöchel wie ein Schraubstock umfassen. Die fehlende Fußlänge wird durch eine Carbonsohle ersetzt. Der Innenschuh passte in handelsübliche Kinderschuhe und so kann Jaron laufen, springen oder auch Fußball spielen wie jeder andere Junge in seinem Alter." Anfangs war es unsicher, ob so eine Hilfe über eine Entfernung von 10.000 km überhaupt funktioniert - aber dank des perfekten Gipsmodelles klappte alles bis ins letzte Detail.

Je nachdem wie die Wachstumsschübe ausfallen, benötigt Jaron ca. alle zehn Monate einen neuen Innenschuh. Dieser wird dann nach einem aktuellen Gipsmodell auf Maß angefertigt und nach Südafrika verschickt. „Damit Jaron sein Bein behalten kann, haben wir seiner Mutter versprochen, solange kostenlos zu helfen, bis das Wachstum der Füße im Alter von 18 bis 19 Jahren abgeschlossen ist. Das sind noch 14 Jahre, die vor uns liegen. Sollte ich das nicht mehr schaffen, haben mein Jungs zugesagt, diese Hilfe zu Ende zu führen. Wenn Jaron volljährig ist, kann er mit ein und demselben Innenschuh mehrere Jahre lang laufen. Tragen muss er sie sein Leben lang, was aber viel besser ist, als ein Bein zu verlieren und eine Prothese tragen zu müssen. Wir hoffen, dass Micha Tolken noch möglichst lange Jaron betreuen kann, denn ohne gute Gipsmodelle wird es schwierig werden. Auch sie hilft Jaron übrigens vollkommen kostenlos".

Facetten des sozialen Engagements

Diese unentgeltliche Hilfe ist aber nur eine Facette des sozialen Engagements im Holsterhauser Handwerksbetrieb. So nutzt man ausschließlich hochwertige, Schadstoff geprüfte Leder aus Deutschland oder der EU, um zum Beispiel keine Kinderarbeit zu unterstützen. Es wird kein Leder von Tieren verarbeitet, deren Bestand bedroht ist und es werden keine Arbeiten in Niedriglohnländer verlagert. Zudem verzichtet der Betrieb auf Werbeanzeigen und Kundenpräsente, nutzt für den täglichen Versand gebrauchte Kartonagen. Mit dem eingesparten Geld, sowie einem Teil des Gewinns unterstützt die Familie Humanitäre Projekte sowie den Umwelt- und Tierschutz.

Nicht umsonst gehörte das Unternehmen zu den zehn Betrieben in Deutschland, die im Dezember 2016 für ihr soziales Engagement durch die Fachmagazine der Handwerkskammern für einen Preis nominiert worden waren. „Es gewann absolut verdient ein anderer Betrieb, aber alleine die Nominierung war für uns schon eine große Ehre."

Dozenten an der Handwerkskammer

Jede Sekunde in dem Gespräch mit inherne merkte man, wie stolz Hartmut Seidich auf seinen Familienbetrieb und die dort ausgeübte Handwerkskunst ist. Dieses Wissen behalten er und seine Frau Tanja nicht für sich. Beide bilden im eigenen Betrieb selbst aus und unterrichten seit 2004 als Dozenten an der Handwerkskammer Düsseldorf angehende Orthopädie-Schuhmachermeister. Für ausländische Schuhmacher werden in der Holsterhauser Werkstatt hin und wieder Kurse und Workshops in Englisch abgehalten.

Alle Informationen: www.seidich.de
Lauflernschuhe aus der Wanne-Eickeler Werkstatt: www.püttis.de

Text: Jochen Schübel /  Fotos: Frank Dieper