Bildung

inherne drückt die Schulbank

5. März 2014 | Gesellschaft Kultur

Diese Geschichte beginnt mit einem Scheitern. Fehlgeschlagen ist das Bemühen, eine Schule zu überreden, mich einen Tag lang als Lehrer zu beschäftigen. Überwog die Furcht der Verantwortlichen, dass ich einen irreparablen Flurschaden anrichte oder die Angst vor einer wenig amüsierten Bezirksregierung? Ich weiß es nicht. Schließlich durfte ich im Otto-Hahn-Gymnasium (OHG) hospitieren. Einen Tag in der Schule zu verbringen, diesen Wunsch haben mir Schulleiter Egon Steinkamp, seine Stellvertreterin Nicole Nowak und viele ihrer Lehrerkollegen erfüllt.

Siehe auch „Der Run aufs Gymnasium“

„Wer heißt hier Chantal?“

In der Filmkomödie „Fack ju Göthe“ tendiert die Bereitschaft der Schüler zur Mitarbeit gegen Null. Nur bei einer Frage zeigen alle auf. Als nämlich der neue Lehrer, der eigentlich ein Hausmeister war, fragt: „Wer heißt hier Chantal?“ Da heben alle ihre Hände. Sonst ist Kooperation eher ein Fremdwort. Und hier am Herner Otto-Hahn-Gymnasium: Fast nur aufzeigende Hände. In jeder Stunde, in Deutsch genauso wie in Mathe. Fleißige Streber, ehrgeizige Streber oder die Zukunft unseres Landes?

Gewusel im Lehrerzimmer

Um eine Minute vor acht betrete ich das Foyer. Eine Lehrerin sieht mein orientierungsloses Gesicht und fragt mich nach meinem Ziel. „Sekretariat“. Sie engagiert einen Schüler, der mich in das Büro in die 1. Etage führt. Im Verlaufe dieses Tages werde ich häufiger von Schülern geführt. Einem Neuling erscheint dieser riesige Gebäudekomplex wie ein Labyrinth. Im Sekretariat empfängt mich die stellvertretende Leiterin Nicole Nowak, um mit mir den Ablauf des heutigen Tages abzusprechen. Gewusel zwischen Sekretariat und Lehrerzimmer. Heute fallen wieder einige Lehrer aus.

Otto_Hahn_Mooshage_copyright_Horst_Martens Englisch mit Vera Mooshage

Begrüßungs-Singsang

Mit Englischlehrerin Vera Mooshage gehe ich in die 5a. Sie zieht – wie einige andere Kolleginnen - einen Trolley hinter sich her, vollgepackt mit Unterrichtsmaterialien. Die Digitalisierung hat den Papierkram noch nicht erledigt. Vor der Tür warten die Schüler, bis die Lehrerin eintritt.

Dann dieser Begrüßungs-Singsang, der sich über Generationen erhalten hat, aber hier, weil es angebracht ist, in Englisch. „Good morning, Miss Mooshage!“ Die Fremdsprache wird in vielen Variationen geübt. Die Muttersprache bleibt außen vor. „Nur bei der Erklärung der Grammatik darf auch mal Deutsch gesprochen werden“, sagt Frau Mooshage.

Das Prinzip der Doppelstunden

In der zweiten Stunde sollen die Kinder lernen, ihre Stadt auf Englisch vorzustellen. Der Stundenplan in dieser Schule besteht nur noch aus Doppelstunden. Mooshage erklärt mir das Modell. „Dadurch wird Lernen in längeren Zeitabständen möglich. Die Doppelstunden beinhalten Arbeitsphasen und Aktivierungsphasen.“

Was ist das Beste an dieser Schule? frage ich.

Ein Schüler: Die Schwimmhalle und die Außensportanlage.

Eine Schülerin: Die Cafeteria.

Eine Lehrerin: Die Schule ist ein brutales, schwerfälliges System. Aber das Otto-Hahn-Gymnasium ist nah am Menschen. Und sehr lebendig.

Otto_Hahn_Schulte_Ontrop_copyright_Horst_Martens

Mathe mit Skatkarten

Ich falle in die 2. Doppelstunde Mathe der 8a ein. Lehrerin Katharina Schulte-Ontrop fächert einen Satz Spielkarten auf. Sechs rote, vier schwarze. Sie fordert die Schülerin auf, eine rote Karte aus dem verdeckten Blatt zu ziehen. An die Tafel zeichnen die Schüler ein Baumdiagramm, aus dem sie die Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse ableiten. Zur Anwendung kommt die Summenregel. Die Lehrerin sagt: „Heute lernen die Schüler viel anwendungsorientierter als beispielsweise in den 50-er Jahren.“ In wirklichkeitsnahen Situationen (Kartenspiel) sollen mathematische Aspekte erkannt (Summenregel) und diese in einem Modellbild („Baumdiagramm“) dargestellt werden. In meinem Kopf schwirrt die Frage: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Lotto gewinne?

Otto_Hahn_Pause_copyright_Horst_Martens "Herr Lehrer, die Pause ist zu kurz!" Doch Lehrer Michael Scholz lässt sich auf nichts ein.

Achtung vor Schneebällen

Die große Pause beginnt. Michael Scholz, der Geschichte und Sozialwissenschaften unterrichtet, nimmt mich mit auf den großen Platz. Er erklärt mir das System der Pausenüberwachung. An strategischen Stellen stehen Lehrer und kontrolieren das Geschehen: Am Zugang zu den Rasenflächen, denn die hübsche Grasnarbe soll nicht zertreten werden. Vor den Gebüschen, dort könnte man sich verstecken. Am Zugang zur Straße, denn das Verlassen des Schulhofs ist verboten. Auf dem Pausenhof kann viel passieren: Schlägereien, Mobbing, Unfälle, Rauchen, Trinken, Koksen. Nicht an dieser Schule: „Wir haben noch nie ernsthaft eingegriffen“, sagt Scholz. „Ich kann mich auch nicht erinnern, dass mal ein Krankenwagen auf dem Platz war. Meistens geht es nur darum, Streitigkeiten zu schlichten.“ Nach der Devise: Herr Lehrer, der P. ärgert mich immer. „Bei einer Schneeballschlacht kann es schon mal ein blaues Auge geben“, sagt Scholz. Aber wann schneit es schon mal in Herne.

Otto_Hahn_Goschkowski_copyright_Horst_Martens "I am your Father", sagt die Cassete zum I-Pod auf Herrn Goschkowskis T-Shirt.

„Ich habe auch Hemden“

Dennis Goschkowski ist ganz der Typus junger dynamischer Lehrer. Mit Kurzhaarfrisur und T-Shirt. Der Comic-Aufdruck seines T-Shirts erzählt folgende Geschichte: Eine Cassette sagt zu einem I-Pod: „Ich bin dein Vater.“ „Oh nooooh!“ schreit das I-Pod. Da kann Herr Goschkowski noch so sehr sagen „Ich habe aber auch Hemden“, wir wissen, er steht für digitale Kultur. Der smarte Lehrer aus der Social-Media-Generation führte die Schule beim Einslive-Duell bis ins finale Stechen. Den „älteren“ Kollegen vermittelt er in Fortbildungen, wie die Medien ticken.

Otto_Hahn_Board_copyright_Horst_Martens Eine Schülerin erklärt am Active Board die Wirkung von Giftgas.

 

An der Wand des Leistungskursus Q 2, in der Goschkowski unterrichtet, hängt eine digitale Tafel, ein Active Board. Schüler und Lehrer können an der Tafel im Internet surfen, Filme einspielen, aber auch schreiben. Gerade jetzt steht dort eine Aufgabe: „Wiederhole mit einem Partner die Vorgänge an der muskulären Synapse, der sogenannten motorischen Endplatte.“ Die Schüler aus der Q2 beantworten diese Fragen im Handumdrehen. Sie sprechen deutsch, aber sie könnten auch Chinesisch schnattern, ich würde nicht weniger verstehen. Immerhin merke ich, dass es um Neurotoxine, um Nervengifte geht.

Otto_Hahn_Bio_copyright_Horst_Martens Die "Q 2" folgt aufmerksam den Erläuterungen des Biologielehrers.

 

Giftgaseinsatz in Bio

Dann fällt das Stichwort Sarin, jenes Gift, das in Syrien eingesetzt wurde und über 1.000 Menschen tötete. Jetzt bin ich hellwach. Als die Schüler erklären, in welchen Etappen Sarin seine schreckliche Wirkung entfaltet, wird mir übel. „Lebensweltbezug“ nennt der Lehrer das pädagogische Mittel, das bei Frau Schulte-Ontrop „anwendungsbezogen“ hieß und in diesem Fall einen drastischen Effekt hatte. „Im Abitur kommt allerdings nicht die Frage nach den gesellschaftlichen Konnotationen“, sagt Goschkowski.

Otto_Hahn_Martens_copyright_Horst_Martens Kleine Diskussion mit dem inherne-Redakteur über die Aufgaben der Europäischen Zentralbank.

 

„Ich bin ein freier Geist“

Das Active Board kommt auch bei den Sozialwissenschaften in der Q1 mit Lehrerin Nicole Nowak zum Einsatz. Die Schüler sollen den Aufbau, die Zielsetzung und die Instrumente der Europäischen Zentralbank recherchieren und darstellen. Zum Schluss sollen sie entscheiden, ob sie die gewonnenen Erkenntnisse auf einem Plakat, einem Thesenpaper oder einem Flyer erstellen wollen. Ein Schüler sagt, das Thema finde er spannend, er interessiere sich für gesellschaftliche Strukturen: „Ich will wissen, wie Kapitalisten mit der Umwelt umgehen.“ Und weil ich ihn möglicherweise fragend ansehe, fügt er hinzu: „Ich bin ein freier Geist.“ Okay! Frau Nowak sagt: „Schauen Sie mal, wie unbefangen die Schüler mit dem Active Board umgehen.“ In der Tat gehen sie nach vorne, googeln, sehen sich Schaubilder an, machen sich Notizen. Eine stinknormale grüne Tafel hätte wahrlich weniger Anziehungskraft.

Otto_Hahn_Nowak_copyright_Horst_Martens Die stellvertretende Schulleiterin Nicole Nowak unterrichtet hier Sozialwissenschaften.

Ein Schüler fragt, ob er das Handy nutzen kann. Er darf. Aber nur für Unterrichtszwecke. Mit Freunden „simsen“ geht gar nicht. Am OHG bestehen klar umrissene Regeln für den angemessenen Umgang mit Handys. Lehrer, Schüler und Eltern haben sich zusammen für eine liberale Variante entschieden. Für Mobiltelefone gilt kein generelles Verbot. In den Freistunden und in der Pause kann das Handy genutzt werden. Andere Schulen sind da restriktiver und verbieten das Artefakt komplett.

Lauter Kompetenzen

Die Schüler der Q1 beweisen Methodenkompetenz, wie Frau Nowak betont. Kompetenz ist das Modewort der Pädagogik-Spähre. Kompetenzen sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, um Probleme zu lösen. Und es auch zu wollen. Und in der Tat sind hier die Schüler in der Lage, Informationen zu beschaffen, auszuwerten und zu präsentieren. Eigenständiges Arbeiten ist ein weiteres Schlagwort. „Idealerweise sollte ich mich selbst überflüssig machen“, sagt Nowak. Ob die Schüler auch genügend Kompetenzen hätten, um sich selbst zu unterrichten?

Otto_Hahn_Regeln_copyright_Horst_Martens Ohne Regeln geht es nicht - die meisten haben die Schüler selbst verfasst.

 

Lauter Regeln

Eine Schülerin der 5b zeigt auf und will was fragen. Lehrerin Annika Dörr sagt: „Du kennst doch unsere Regeln: Zuerst begrüßen wir uns.“ Nicht der erste Hinweis auf Regeln in dieser Schule. In allen Klassen hängen Aushänge. „Ich höre zu, wenn andere sprechen.“ „Ich arbeite leise und konzentriert.“ „Bei Fehlern lachen wir uns nicht aus.“ Und die Schüler bekräftigen mit ihrer Unterschrift am Fuß der Regeln, dass sie sich daran halten werden.

Otto_Hahn_Deutsch_copyright_Horst_Martens Lehrerin Annika Dörr lässt einen Aufsatz über Haustiere schreiben.

 

Das Thema ist „Haustierhaltung“. Nach dem Auflisten von Pro- und Contra-Argumenten soll ein Aufsatz geschrieben werden. „Für mich ist wichtig, dass die Schüler eigenständig zu einem Ergebnis kommen“, sagt Lehrerin Dörr. Das Ziel der Stunde ist: „Strukturiertes, neutrales Schreiben nach verschiedenen Kategorien.“ Spätestens anhand dieses anspruchsvoll formulierten Stundenziels wird für die Schüler erfahrbar, dass sie gerade erst der Grundschule entwichen sind. Über die neue Schule sagen sie: „Das Gymnasium ist viel schwieriger, der Lernstoff ist umfangreicher.“ Aber sie sagen es nicht, als ob eine Last sie erdrücken würde. Sondern eher wie: Endlich haben wir die Babyschule hinter uns.

Im Lehrerzimmer sehe ich, auf welche Weise 80 Pädagogen in einem Raum platziert werden – an zahlreichen langen Tischen und in Räumen, die andeutungsweise unterteilt werden. „Heute sitze ich zum ersten Mal“, sagt Annette Brinkmann. Seit 8 Uhr ist sie auf den Beinen. Es ist gleich 12.30 Uhr. „Und schreiben Sie, dass wir im Lehrerzimmer viel zu wenig Platz haben“, wünscht sich Michael Scholz, den ich auf dem Schulhof getroffen habe. Ein paar seiner Kollegen nicken.

Übermittag – Essen, lernen, spielen

In der Mensa beginnt um 13.15 Uhr eine einstündige Mittagspause. Dort gibt es Speise für Leib und Geist. Hier nehmen sie das Mittagessen zu sich, erledigen Hausaufgaben, spielen, überbrücken die Zeit bis zur nächsten Stunde. Leiterin des „Selbstlernzentrums“ ist Sozialpädagogin Mary Litschel. Sie wird unterstützt von Leonie Bednarek vom Caritasverband, der hier die Hausaufgabenbetreuung anbietet. Auch ältere Schüler verdienen sich einen Euro dazu, indem sie bei Hausaufgaben helfen.

Mädchen erledigen Aufgaben sofort

Litschel hat viele Listen auf dem Schreibtisch liegen. Darauf steht, wer wann kommt und wie lange bleibt. Auch hier hängen Regeln aus: „Das Verlassen des Grundstücks ist für jeden Schüler unter der 7. Klasse untersagt.“ Die Schüler können kommen und gehen wann sie wollen, aber nur mit dem Einverständnis der Eltern. „Für jedes Kind gelten andere Absprachen. Aber wenn ich es einmal aufgeschrieben habe, weiß ich es auch auswendig“, sagt Litschel. „Ich habe mit fünf Leuten in der Nachmittagsbetreuung angefangen, im Moment sind es 23.“ Hier, in dieser zwanglosen Umgebung, erfährt die Pädagogin schon mal mehr von ihren Schützlingen. „Ich kriege auch mit, wenn der familiäre Hintergrund schwierig ist. Wenn jemand eine 5 schreibt und die Note seinen Eltern nicht zeigt, dann informiere ich den Lehrer schon mal, welches das wirkliche Problem ist.“ Sie hat festgestellt: „Die Mädchen erledigen die Hausaufgaben sofort. Jungs müssen sich erst auf dem Fußballfeld austoben.“

Otto_Hahn_Flur_copyright_Horst_Martens Feierabend - fast alle sind schon weg.

 

Feierabend erst um 18 Uhr

Es gab mal eine Zeit, da war nach der 6. Stunde Schluss. Vor allem die höheren Klassen bleiben heute länger. Sie absolvieren bis zu 34 Wochenstunden. Nur 30 davon passen in den Vormittag. Heute ist das Otto-Hahn-Gymnasium eine offene Ganztagsschule. Erst um 18 Uhr schließt sich endgültig der Vorhang. Feierabend.

Text und Fotos: Horst Martens

 

www.otto-hahn-gymnasium.de

Hölkeskampring 168

Ca 100 Schuler und 80 Lehrer

Außengelände= 30.000 qm groß

Wurde 2002 zum beliebtesten Gymnasium NRWs gewählt.