inszene-Autor Sascha Rutzen über sein Erasmus-Semester in Budapest

Partys auf engstem Raum und Kaffee am späten Abend

5. Mai 2017 | Gesellschaft Kultur

Fotografie an Budapester Uni

Und sonst: Beim Duschen kriegt man zwischendurch einen Stromschlag, aber dafür haben wir extrem hohe Decken (4,5m), Zwischenetagen in den Zimmern und die Tram direkt vor der Haustür. Seit Anfang Februar studiere ich hier ein Erasmus-Semester lang Fotografie an der Budapest Metropolitan University.

Es geht um Freiheit

In diesen Tagen bestimmt vor allem ein Thema die Öffentlichkeit hier in Budapest: Der CEU, einer privaten amerikanischen Eliteuniversität, wurde der Betrieb ab dem kommenden Jahr untersagt. Gründer und Förderer George Soros wurde von Viktor Orban zum Feind Ungarns erklärt. Die letzte Demo am 9. April brachte circa 70.000 Menschen zusammen. „Ich bin wirklich niedergeschlagen", sagt mir Daniel Berg, der IT an der CEU studiert, „es geht nicht nur um eine Uni, sondern um die Freiheitsrechte." Er hofft auf Unterstützung von der EU.

  • Das ungarische Parlament an der Donau. ©Sascha Rutzen
    Das ungarische Parlament an der Donau. ©Sascha Rutzen

Im August habe ich mich sehr kurzfristig für den Aufenthalt hier beworben – und statt wie angekündigt Anfang November erst Mitte Januar das Ergebnis mitgeteilt bekommen. Einen Monat später musste ich mich bereits vor Ort einschreiben. Mit Fristen und Terminen nimmt man es an meiner Gast-Uni nicht so genau – ich warte schon seit Wochen auf eine wichtige Unterschrift, aber die veranwortliche Person ist im Ausland. Mein Studium hier ist eher mittelmäßig. Die technische Ausstattung ist miserabel (es gibt drei Spiegelreflexkameras, aber nur einen Akku) und die Dozenten kratzen oft nur an der Oberfläche von Themen, die mich interessieren.

Ein Dutzend Nationen im Wohnzimmer

Erasmus beginnt in meiner Sechser-WG schon im Wohnzimmer: Hier treffen jeden Tag Frankreich, Italien, Polen, Deutschland und Ungarn aufeinander. Es ist großartig, im Alltag nebenbei so viel über die verschiedenen Kulturen zu lernen: Handküsse, jede Menge Wangenküsse, Kaffee um neun Uhr abends. Einmal die Woche laden wir Freunde und Kommilitonen ein, und dann platzt die Wohnung aus allen Nähten. Vierzig, fünfzig Leute, ein Dutzend Nationen – links von einem wird auf Französisch über Feminismus diskutiert, rechts erklären Griechen den aktuellen Stand der Krise daheim.

Neue Strukturen regen zum Denken an

Erasmus wird schnell als Party-Semester abgetan und der Nutzen fürs Studium bei nahezu Null angesiedelt. Für mich ist das Studium hier tatsächlich kein großer Gewinn – stattdessen liegt der Mehrwert für mich darin, als Fotograf langfristig an Projekten vor Ort arbeiten zu können, wie an einer Doku über Graffiti und Streetart. Wer im Studium ins Ausland geht und sich nicht nur mit den eigenen Landsleuten umgibt (was erstaunlich oft vorkommt), wird in komplett neue Strukturen geworfen: Jeden Tag ein halbes Dutzend verschiedene Sprachen zu hören und unter sehr aufgeschlossenen Menschen zu sein, das verändert einen und gibt viel Stoff zum Nachdenken.

Arrangierte Ehen, Nazis und Obdachlose

Es geschehen viele Dinge, mit denen ich zuhause in Herne selten konfrontiert würde: Ein 21-jähriger Inder erzählt mir, dass er die Hoffnung auf Liebe schon aufgegeben und sich bereits auf eine arrangierte Ehe eingestellt hat; ein muskelbepackter ungarischer Nazi zieht vor einer Bar im Streit sein T-Shirt aus, präsentiert seinen mit SS-Runen tätowierten Rücken und hebt die Hand zum Hitlergruß; an U-Bahn-Stationen richten Obdachlose sich schäbige Hütten ein. Diese Kontraste machen die Stadt aus.

Alles rückt näher zusammen

Budapest wird immer kleiner für mich, alles rückt näher zusammen – es gibt eine handvoll Spots unter Erasmus-Studenten, wo man garantiert jemanden trifft, den man über zwei Ecken kennt. Facebook-Kontakte werden nach wenigen Sätzen ausgetauscht und so legt sich langsam ein loses Netzwerk über diese eigentlich doch wunderbare Stadt, das hoffentlich auch nach meiner Rückkehr noch Bestand hat und mir die Welt näher bringt.

Sascha Rutzen