Jana Crämer möchte mit ihrer Geschichte Betroffenen Mut machen

Satt ist nicht genug!

7. Mai 2017 | Freizeit Gesellschaft

Angefangen hat alles während der Schulzeit. „Ich verfluche den Tag, an dem ich die erste Diät gemacht habe“, sagt die 34-Jährige, die in Herne aufgewachsen ist: „Ich habe angefangen, mich mit anderen zu vergleichen. Wenn man sich selbst nicht genug ist, findet man immer jemanden, der besser ist. Da habe ich dann keine Grenzen mehr gefunden. Nach der einen Diät folgte die nächste. Auf einmal hat man Komplimente bekommen, weil man abgenommen hat. Wenn man danach wieder normal gegessen hat, ging das Gewicht wieder hoch. Diese Maßlosigkeit habe ich nicht in den Griff bekommen, und 2013 war ich bei 170 Kilo.“

Zu der Zeit lebte Jana Crämer schon nicht mehr in Herne, sondern in Wetter. Sie war als Managerin der Band Luxuslärm tätig. Preisverleihungen mied sie, weil sie sich vor den schicken Kleidern drücken wollte. Familienfeiern waren ihr ein Graus, weil sie Angst hatte, dass es nicht bei einem Stückchen Kuchen bleibt. Binge-Eating nennt sich das Problem, unter dem Jana Crämer leidet. Dabei würden sich Essstörungen nicht immer klassisch abgrenzen lassen. Eine Zeitlang hat sie sich nach dem Essen auch übergeben: „Und teilweise habe ich gegessen, gegessen und gegessen und danach eine Woche oder zehn Tage gar nichts mehr zu mir genommen. Aber ich habe auch Phasen gehabt, wo ich nur gefressen und keine Gegenmaßnahmen eingeleitet habe. Das ist Binge-Eating. Das heißt Fressgelage. Einfach nur essen, essen, essen und kein Ende finden.“

  • Bei ihren Konzert-Lesungen möchten die Betroffenen Mut machen. ©Esther Grünhagen

Keine stationäre Therapie

„Ich war einmal in einer Klinik und habe auch den Anamnese-Marathon mitgemacht. Die Ärztin sagte dann, ich habe eine atypische Bulimie. Sie wollte mich sechs Wochen stationär aufnehmen. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Ich war nicht sportlich, aber da habe ich die Beine in die Hand genommen und bin gelaufen. Das war für mich der blanke Horror“, berichtet Crämer. Danach habe sie Angst davor bekommen, sich Hilfe zu holen.

Heute wiegt die Autorin nur noch die Hälfte ihres Höchstgewichts. Das hat sie durch strenge Ernährungspläne geschafft, an die sie sich akribisch hält. „Ich bin weit davon entfernt, geheilt zu sein“, sagt sie selbst über sich. Aber mittlerweile dauern die Fressattacken nicht mehr ein oder zwei Wochen, sondern nur ein oder zwei Tage. Außerdem möchte sie nun mit einem professionellem Team aus Ernährungspsychologe und -berater an der Essstörung arbeiten. „Ich freue mich schon richtig drauf“, sagt Crämer.

Nie hätte sich Jana Crämer vorstellen können, mal ein Buch zu schreiben. Mittlerweile ist ihr erster Roman „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ erschienen. „Es war nie der Plan, ein Buch zu veröffentlichen. Ich wollte mir nur einiges von der Seele schreiben. Das war eher ein Tagebuch für mich“, erklärt die 34-Jährige. Dem Bassisten von Luxuslärm, David Müller (Batomae), ihrem besten Freund, hat sie die Aufzeichnungen anvertraut. „In den Phasen, in denen es mit dem Essen besonders schwierig ist, bekommen die Menschen, die ich am liebsten habe, meine Launen ab. Deswegen sollte er wissen, was mit mir los ist.“ So wie jeder Film eine Titelmusik hat, schrieb Batomae drei Songs für Jana Crämer und ihr Buch. „Unvergleichlich“ ist der Titelsong, zu dem beide auch ein Video gedreht haben. Die Aussage ist klar: Vergleicht euch nicht mit anderen. Genau diese Botschaft tragen die beiden bei ihren Konzertlesungen nach außen. Sie touren auch durch Klassenzimmer und Therapiezentren, um Betroffenen Mut zu machen. Das fällt der ehemaligen Schülerin des Otto-Hahn-Gymnasiums gar nicht so leicht: „Ich bin nicht diejenige, die gut vor Leuten spricht, sondern lieber im Hintergrund und mag es gar nicht so im Mittelpunkt zu stehen. Vor jeder Lesung bin ich ein nervliches Wrack.“ Aber die Reaktionen würden sie immer wieder positiv beeindrucken. „Wenn dann im Publikum ein Mädel sitzt, das mir mit ihrem Blick zeigt ‚Ich verstehe genau, was du meinst und es tut gut, dass es jemand ausspricht‘, dann ist es das wert.“

Zuspruch und Danksagungen

Genau diesen Zuspruch erfährt sie auch in den sozialen Medien. Viele Mädchen melden sich bei ihr und bedanken sich für ihr Buch. Sie fühlen sich nicht mehr allein. Aber Essstörung sei nicht nur ein weibliches Thema. Auch Jungen und Männer haben solche Probleme. „Es ist für mich wie eine Offenbarung, über all das zu sprechen und nicht verurteilt zu werden“, sagt Crämer, die gerne mal zu einer Konzertlesung nach Herne kommen würde.

Was sich Jana Crämer für die Zukunft wünscht? Sie wünscht sich, dass sich noch mehr junge Frauen und Männer das Video „Unvergleichlich“ auf Youtube ansehen und dadurch mutiger werden. Und für sich persönlich: „Ich würde mir schon wünschen, einfach mal mit meinen Jungs zusammenzusitzen und eine Pizza zu essen ohne danach sofort ein schlechtes Gewissen zu haben. Einfach mal genießen. Ohne Angst zu haben, angeschaut zu werden. Das wäre schön.“

www.musik-trifft-roman.de

Anja Gladisch