Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im KuZ

„Völkermord – passiert auch heute noch“

27. Januar 2017 | Gesellschaft

  • Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda warnte vor rechtspopulistischen Tendenzen. © Frank Dieper und Lina Hoffmann, Stadt Herne

Szenische Doku

Im gut gefüllten Kulturzentrum holten Schüler der Gesamtschule Mont-Cenis mit Unterstützung ihrer Lehrerin Céline Spieker den Leidensweg der Ruth Frank aus der Versenkung in die Gegenwart. Die Familie Frank wohnte in Sodingen und besaß dort ein gut gehendes Geschäft - in dem Stadtteil, in dem auch die Gesamtschule liegt. Also war geografische Nähe gegeben. Die emotionale Nähe entwickelte sich für die Beteiligten aus der Recherche: Aus einer Reihe von Fundstücken, zumeist aus dem Stadtarchiv, in Form von Fotos, Briefen, behördlichen Listen, Zeitungsanzeigen, alten Adressbüchern, aus einer Soundkulisse aus historischen und aktuellen Aufnahmen, aber auch aus heutigen Befragungen bauten sie eine höchst beeindruckende szenische Doku zusammen. Dabei unterstützt wurden sie von den "Impulsgebern" (O-Ton Oberbürgermeister) Jürgen Hagen, Leiter des Stadtarchivs, und Ralf Piorr, Historiker.

Während die Schüler Tom Wolter und Jan Mackowiak an einem auf der linken Seite der KuZ-Bühne platzierten Tisch die Chronik des Leidensweges der Ruth Frank wie Nachrichtenandager verlasen, traten nacheinander Carina Berensfreise, Shilan Doud, Dilek Yildiz, Florian Miftari und Aytunc Tiryaki an ein mittig stehendes Mikrofon und lasen aus Briefen und anderen Dokumenten. So gelang eine beeindruckende Darbietung.

"Warum konnte das geschehen?"

Am 27. Januar gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus, konkret wurde an diesem Tag im Jahr 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Der 27. Januar spielte auch im Leben der Franks eine besondere Rolle - an diesem Tag vor genau 75 Jahren erfolgte die erste Deportation von Menschen jüdischen Glaubens aus dem Ruhrgebiet. Und Ruth und ihre Familienangehörigen gehörten dazu - sie und ihre Eltern fanden später in den Vernichtungslagern den Tod, genauso wie 29 andere von den insgesamt 41 Deportierten. Bruder Ernst gelang die Flucht in die USA. Nach Kriegsende kehrte er als amerikanischer GI nach Sodingen zurück und stand fassungslos vor dem Haus seiner Eltern, das vom Krieg unberührt war. Bruder Kurt hingegen gelang es rechtzeitig, nach Israel zu flüchten. Sein Sohn Dan lebt immer noch dort, die Schüler, die ihn per Skype in einer Radiosendung befragt hatten, spielten das aufgezeichnete Interview ab: "Mir tut es gut, dass immer mehr Menschen den 27. Januar feiern", sagte Dan, "ich frage mich aber immer wieder: Warum konnte das geschehen?" Und: "Das war nicht der einzige Völkermord", endete er das Gespräch, "es passiert auch heute noch. Deshalb ist dieses Projekt so wichtig."

Immer weniger Zeitzeugen

Oberbürgermeister Dr. Dudda hatte darauf hingewiesen, "dass wir dem Ende der Zeitzeugenschaft entgegenblicken. Es gibt immer weniger Menschen unter uns, die die Zeit des Nationalsozialismus bewusst erlebt haben". So informierte er schon ganz am Anfang der Rede darüber, dass vor genau zwei Wochen, am 13. Januar, Liesel Spencer mit 93 Jahren gestorben ist, die als Kind in Wanne-Eickel die Ausgrenzung der Bevölkerung jüdischen Glaubens erlitten hatte. "Liesel Spencer hat trotz ihrer unendlich schmerzlichen Erinnerungen daran mitgewirkt, dass die Stadt Herne einen würdigen Weg gefunden hat, sich der Verbrechen und Untaten in der Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern. Dieser Weg, den wir vor einigen Jahren eingeschlagen haben, findet weit über unsere Stadtgrenzen Anerkennung."

"'Wir zuerst' ist nicht die Lösung"

In zwei Punkten knüpfte Dudda an das aktuelle Zeitgeschehen an: Er verwies auf den kürzlichen Tod des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der den 27. Januar als Erinnerungstag etabliert hat. Und er wies auf die bedenklichen Entwicklungen im rechten Spektrum der Gesellschaft hin: "Irritiert und besorgt beobachten wir die rational nicht nachvollziehbare Tendenz, rechtspopulistischen politischen Akteuren zu folgen, weil sie vorgaukeln, vermeintlich einfache Lösungen für in Wahrheit hochkomplizierte Herausforderungen zu kennen. ... Doch sollten gerade wir in Deutschland es aus bitterer Erfahrung nicht besser wissen, dass ein 'Wir zuerst!' nicht die Lösung für die Aufgaben ist, die sich uns in einer vernetzten und auf internationalen Austausch angewiesenen Welt stellen?"

Für die musikalische Umrahmung bei der Veranstaltung sorgte die Big Band der Gesamtschule Mont-Cenis unter der Leitung von Ingo Marmulla.

Shoah-Mahnmal - geöffnet und geschützt

Geschichte zum Anfassen - davon machten Schüler vor Beginn der Veranstaltung auf dem Willi-Pohlmann-Platz Gebrach. Das dort platzierte Shoah-Denkmal, das mehrmals geschändet wurde, war kurz zuvor von der Schutzkonstruktion befreit worden und lud jetzt zum Erkunden der Geschichte ein. "Wir wollen das Mahnmal wieder Tag für Tag geöffnet sehen", sagte Dr. Dudda, "um innehalten, gedenken und erinnern zu können. Wir wollen es aber auch schützen, damit die schmählichen Schändungen nicht wiederholen können." Bis Ende des Jahres soll eine Konstruktion aus Baubronze, die jetzt noch in Planung ist, am Mahnmal befestigt werden.

Gebete zum Schluss

Am Mahnmal versammelten sich dann zum Schluss die Besucher der Gedenkstunde um gemeinsam mit Henryk Banski (jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen), Superintendent Rainer Rimkus und Dechant Norbert-Johannes Walter die Gebete zu sprechen. Nach einigen Worten rief der Oberbürgermeister zu einer Schweigeminute auf.

Horst Martens