Kirche

Mehr Verbindendes als Trennendes

26. Juli 2014 | Gesellschaft

Reiner Rimkus: "... eine gewisse Abkühlung im Verhältnis zwischen den Konfessionen." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne Reiner Rimkus: "... eine gewisse Abkühlung im Verhältnis zwischen den Konfessionen." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

inherne: Zwischen Ihnen gibt es ein gutes persönliches Miteinander. Gilt das auch für die beiden großen Kirchen in Herne allgemein?

Gröne: Ich glaube von einem guten Miteinander würde in beiden Kirchen auch an höheren Stellen gesprochen. Ganz viel hängt davon ab, wie wir vor Ort miteinander umgehen. Wir als Amtsträger haben ein geschwisterliches Miteinander, in dem Maße, in dem wir bereit sind miteinander ins Gespräch zu kommen und auf einander zuzugehen. Ich habe mich darum bemüht und habe auf der anderen Seite, ich spreche bewusst nicht von Gegenseite, immer offene Türen gefunden.

Rimkus: Ich möchte auf zweierlei Weise antworten. Das Drumherum im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017 hat für eine gewisse Abkühlung im Verhältnis zwischen den Konfessionen an höheren Stellen gesorgt. Davon lassen wir uns hier in Herne aber nicht berühren. Wir haben persönlich ein nahes Verhältnis. Darüber hinaus gibt es auch gemeinsame Aktivitäten von Kirchenkreis und Dekanat, die weitere Anknüpfungspunkte bieten.

inherne: Worin bestehen die?

Gröne: Es ist beispielsweise selbstverständlich, dass wir die Gottesdienste zum Schuljahresende alle ökumenisch begehen. Das ist seit Jahren in ganz Herne so. Erst vor wenigen Tagen haben in Herne-Mitte die Bonfatiuskirche und die Kreuzkirche gemeinsam ihr ökumenisches Pfarrfest gefeiert. Es ist einfach ganz normaler Bestandteil unseres kirchlichen Lebens viele Dinge gemeinsam zu machen und auch weiterhin zu schauen, ob es noch mehr Dinge gibt, die man zusammen anpacken kann.

Rimkus: Es gab immer wieder eine große Gastfreundschaft in Fällen, in denen eine Kirche nicht nutzbar war. Dann hat die andere Konfession ihr Gotteshaus zur Verfügung gestellt. Ich sehe am Horizont daher durchaus die Perspektive eines gemeinsamen Gebäudekonzepts. Das ist die praktische Seite. Für das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 planen wir ein gemeinsames Fest. Das ist auch Zeichen dafür, dass uns das Jubiläum nicht trennen soll, sondern uns eher zusammenbringt.

Gröne: Es ist ohnehin festzustellen, dass die Differenzen zwischen evangelisch und katholisch in den vergangenen Jahrzehnten sich deutlich verringert haben. Im alltäglichen Leben spielen sie eine geringere Rolle als die Gemeinsamkeiten. In den Gemeinden betrachtet an das Trennende manchmal, überspitzt ausgedrückt, als akademische Spielerei. Aber es muss auch gesagt werden: Es gibt auf beiden Seiten Flügel, die dies auch skeptisch sehen.

Rimkus: Das Amts- und Kirchenverständnis, das beispielsweise dafür sorgt, dass es keine gemeinsame Abendmahlsfeier geben kann, wird man theologisch beleuchten und begründen können. Aber diese Begründung ist für das Miteinander zweitrangig. Doch die Betonung des Gemeinsamen ist wichtig, ohne damit eine Nivellierung zu betreiben. Nur vereinzelt gibt es auf evangelischer Seite Pfarrerinnen und Pfarrer, die sagen: Da trennt uns noch etwas und wir wollen die Trennung leben. Ich glaube, ich behaupte nichts Falsches wenn ich sage, dass diese Tendenzen bei der katholischen Geistlichkeit noch etwas mehr zu finden sind. Es liegt also auch an der Geistlichkeit in wieweit Gemeinden gemeinsam unterwegs sein können.

Christian Gröne: "Die Ökumene haben wir im Blick, weil uns das Trennende stört." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne Christian Gröne: "Die Ökumene haben wir im Blick, weil uns das Trennende stört." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

Gröne: Das ist so. Die Ökumene haben wir im Blick, weil uns das Trennende stört, weil es im Widerspruch steht, zu dem, was Christus gewollt hat. Er sagte, dass alle eins sein sollen. Ökumene kann aus katholischer Sicht aber nicht heißen: „Kommt doch alle wieder zurück zu uns". Ökumene muss eine wachsende Einheit unter Wertschätzung der Verschiedenheit heißen. Das bedeutet auch zu schauen, wo hat die andere Konfession ihre Stärken und wo die eigene.

Rimkus: Es gibt zu lange eigene Traditionen, als dass wir Gleichmacherei betreiben sollten. Aber mit gegenseitiger Offenheit kann es auch zu einer gemeinsamen Abendmahlsfeier kommen, das sehe ich durchaus als weites Ziel, auch wenn wir, offen gesagt, davon noch ein gutes Stück entfernt sind.

Gröne: Ich frage mich auch persönlich, ob es für mich ein Ärgernis ist, dass wir seit bald 500 Jahren die Trennung in zwei Konfessionen haben. Nur wenn es mich stört, tue ich etwas, um es zu verändern.

Rimkus: Das ist die Innensicht, es gibt aber auch eine Außensicht. In einer Gesellschaft, in der wir langsam einen religiösen Analphabetismus wahrnehmen, ist es kaum noch vermittelbar, dass wir zusammen Christen sind, aber dennoch auf unterschiedlichen Wegen unterwegs sind. Wir werden vor der Tatsache stehen, dass wir bald in unserer Gesellschaft nur noch ein Drittel Christen haben. Und daher würden wir uns schwächen, wenn wir die Unterschiedlichkeit hervorheben. Es wäre die stärkere Art des Zeugnisses, zu überwinden, was uns trennt, um miteinander spür- und hörbar als Christen aufzutreten. Das ist die äußere Motivation.

inherne: Wir haben in Herne auch orthodoxe Christen, teilweise aufgrund von Zuwanderung und wir haben Freikirchen. Wie stellt sich das Verhältnis zu diesen Kirchen momentan dar?

Rimkus: Wir haben einen Arbeitskreis Christlicher Kirche, kurz ACK, dem momentan ein katholischer Geistlicher vorsteht. Im ACK sind die syrisch-orthodoxe Kirche und die griechisch orthodoxe Kirche vertreten, die Adventisten verfügen über einen Gaststatus. Diese „kleinen" Kirchen sehen eine gewisse Gefahr, unterzugehen, wenn sie sich zu sehr den großen Konfessionen annähern. Die Freikirchen, die ja eher dem evangelischen Spektrum entstammen, haben sich aus historischen und Glaubensgegebenheiten gebildet, die in sich nicht unbedingt den Keim tragen, sich wieder unter dem Dach der evangelischen Kirche einzufinden. Gleichwohl gibt es auch dort eine gute Zusammenarbeit, aber nicht in dem Sinne, dann auch wieder eine gemeinsame Organisationsform anzustreben.

Gröne: Auf katholischer Seite gibt es die sogenannten Altkatholiken – eine Gruppierung, die sich 1870 von der römisch-katholischen Kirche getrennt hat – aber mir ist in Herne kein Altkatholik bekannt.

inherne: Herne hat bekanntermaßen bedingt durch die Zuwanderung einen hohen Anteil muslimischer Bevölkerung. Wie gestaltet sich das Miteinander mit den Muslimen in Herne?

Gröne: Wir haben uns bemüht und bemühen uns auch weiterhin um einen guten Austausch. So hatten wir im Frühjahr ein gutes Gespräch mit Vertretern der Moscheegemeinden in Herne. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wir müssen in diesem Bereich als christliche Kirchen lernen. Wir müssen und wollen mit der Tatsache leben, dass gerade hier im Ruhrgebiet viele Mitglieder einer der anderen großen Weltreligionen mit uns leben. Wir vermitteln diese Tatsache in unseren Gemeinden und sind auch bestrebt, ein gut nachbarschaftliches Verhältnis und partnerschaftliches Verhältnis mit anderen Religionen zu haben.

Rimkus: Es gibt da ganz natürliche Begegnungsfelder, nehmen Sie beispielsweise die Kindergärten. Viele muslimische Eltern schicken ihre Kinder bewusst in evangelische, aber auch katholische Kindergärten, weil sie es als wertvoll erachten, dass dort religiöse Rituale vermittelt werden. Es geht in der Schule weiter, beispielsweise nehmen viele Muslime am Unterricht des evangelischen Berufsschulpfarrers teil und bringen sich dort sehr engagiert ein. Ich finde beides richtig gut, weil sich so von Kindesbeinen über die Jugend hin ein gemeinsames Verständnis füreinander entwickelt und jeder voneinander weiß, woran der jeweils andere glaubt. Manche Christen haben in diesem Bereich ohnehin ein Defizit. Sie können weniger gut benennen, woran sie glauben, als das bei Muslimen der Fall ist. Für mich ist wichtig, dass sich ein neues Miteinander gestaltet, das nicht mehr mit der Missionierungsidee vergangener Tage zu tun hat, sondern dass wir uns in einem Dialog befinden. Einem Dialog, in dem ich fröhlich sage, was ich als Christ glaube, und mir auch klar anhöre, was die Muslime glauben.

Gröne: Ich empfinde das ähnlich wie Sie, Herr Rimkus. Die Muslime in unserer Gesellschaft sind für uns Christen auch eine Anfrage, uns selber mit unserem Glauben zu beschäftigen. Denn im Gespräch mit Muslimen stellen viele Menschen immer wieder fest, wie schwach und unterwickelt ihr eigenes Wissen um das eigene Christsein ist. Weil wir sehen, dass die Muslime ihren Glauben sichtbar leben, wird dies eine Frage an uns selbst sein, inwieweit wir bereit sind Rechenschaft abzugeben über unseren Glauben und unsere Hoffnung.

Christian Gröne (l.) und Reiner Rimkus im Interview. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne Christian Gröne (l.) und Reiner Rimkus im Interview. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

Rimkus: Ich respektiere jeden, der seinen Glauben von Herzen lebt. Allerdings gibt es - hier weniger als in den USA - einen Fundamentalismus, der ohne große Toleranz arbeitet. Das finde ich auch von der christlichen Seite her fatal, wie auch unsere Kirchengeschichte belegt. Aber es gibt auch im Islam fundamentalistische Strömungen, denen ich nicht mit Toleranz begegnen kann und denen im Islam selbst auch nicht mit Toleranz begegnet werden sollte. Wenn ich lese, in einem Land solle ein Gottesstaat mit der Scharia als Rechtsgrundlage entstehen, dann sage ich ganz klar: Da sei Gott vor! Was die Perspektive eines gemeinsamen Gottesdienstes mit den Muslimen angeht, muss ich sagen, dass ich das nicht sehe. Dafür sind die Religionsprofile doch zu unterschiedlich. Wir sollten da auch nicht so tun als sei das alles eins. Aber es ist gut, im Blick zu haben, wo wir interreligiöse Veranstaltungen oder Gebete an neutralen Orten, beispielsweise im Rathaus, auf einem Marktplatz, in Schulen zu bestimmten freudigen, aber auch traurigen Anlässen gemeinsam veranstalten können.

inherne: Die Kirchen betreiben auch Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die auch von Muslimen genutzt werden, zumal Herne nicht über ein kommunales Krankenhaus verfügt. Wie gestaltet sich dort der Alltag?

Gröne: Natürlich müssen und mussten wir auch dort lernen. Ein Beispiel: Wir mussten uns damit vertraut machen, welche Riten ein gläubiger Moslem vollzieht, wenn ein Angehöriger stirbt. Hier gilt es nach Wegen zu suchen, einer muslimischen Familie zu ermöglichen, die notwendigen Dinge zu verrichten. Das halte ich für notwendig, richtig und gut.

Rimkus: Als Christen können wir uns in diesem Zusammenhang einfach mal wieder erinnern, dass es früher um Sterben und Tod viele Riten gab, für die es in den christlichen Krankenhäusern ein neues Bewusstsein zu entwickeln gilt, zum Beispiel, dass es eine Aussegnung gibt. Und die sollte nicht im allerletzten Raum vollzogen werden, in dem vielleicht noch ein Kühlschrank in der Ecke brummt.

Gröne: Das ist der Punkt, den ich eben nannte. Die Begegnung mit dem Islam ist für uns auch die Frage: Wie halte ich es mit meiner eigenen Religion? Wir haben in der christlichen Tradition ein reiches Brauchtum, das nur leider allzu oft in Vergessenheit geraten ist.

Rimkus: In den Krankenhäusern hat sich das Miteinander mit den Muslimen inzwischen gut eingespielt. Wir haben in den evangelischen Krankenhäusern Räume geschaffen, in denen Muslime ihre Rituale vollziehen können und von denen sie selbst sagen, dass die Räume dafür geeignet sind. Aber es ergeben sich andere Felder, auf denen wir das Zusammenleben ausgestalten müssen. Ich denke da an die Pflegeheime. Viele ältere Menschen mit Migrationshintergrund verbringen zwar ihren Lebensabend in ihrem Herkunftsland, beispielsweise der Türkei. Viele bleiben inzwischen aber auch hier. Da bestehen dann unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie in einem Heim gepflegt werden soll, beispielswiese wer die intime Körperpflege durchführt. Diese Berührungssorgen- und ängste müssen gemeinsam thematisiert werden. Ich hielte es nämlich für fatal für die Integration und die gemeinsame Gestaltung unserer Gesellschaft, wenn wegen solcher Fragen eigene Einrichtungen entstünden. Wir haben uns ernsthaft damit zu befassen, dass unter uns Menschen mit anderen Traditionen leben, die wir berücksichtigen müssen.

Gröne: In den katholischen Krankenhäusern sind wir im Hinblick auf spezielle Räume für Muslime noch auf dem Weg. Im St. Anna-Hospital in Wanne bestehen sie, im Zuge der Neuausrichtung des Marienhospitals sind sie eingeplant. Wir sind in der Pflicht, darauf zu reagieren, dass ein nicht unerheblicher Anteil unserer Patienten muslimischen Glaubens ist.

inherne: Themenwechsel: Welche Aufgaben sehen Sie für die Kirchen in der Stadtgesellschaft? Wie würden Sie beschreiben, was die Kirchen für die Gesellschaft tun?

Rimkus: Wir haben ein vielfältiges kirchliches Leben. Die Menschen in den Gemeinden sind dort weil sie glauben, und weil sie glauben, leben sie auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Ich finde, was die christliche Botschaft uns mitgibt, beschreibt eine Art des Lebens, die gut ist. Weil darin so etwas wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe, auf den Anderen zu achten, miteinander unterwegs zu sein oder sich zu versöhnen statt sich zu streiten vorkommt. Es werden elementare Dinge des miteinander Umgehens auf eine so gute Weise beschrieben und auch als Lösung angeboten, dass es einfach gut ist, dass christliches Miteinander in einer Stadt existiert. Das Ergebnis daraus ist, dass Christen Verantwortung sehen auch für Menschen außerhalb des Gemeindelebens. Beispielsweise in der Arbeitslosenberatung, Ehe- und Lebensberatung oder Schuldnerberatung. Da sagen Christen, wir kümmern uns um Menschen, gerade auch um die am Rande der Gesellschaft, um die sich sonst kaum jemand kümmert, zum Beispiel auch um Flüchtlinge und Asylanten. Mitarbeitende unseres Jugendreferates sind die einzigen, die bereit waren, in der Emscherstraße eine dringende soziale und integrative Arbeit – dankenswerterweise von der Stadt finanziell unterstützt – im Blick auf dort lebende zirka 200 Jugendliche aus vielen Nationen und Kulturen zu übernehmen. An vielen Stellen nehmen Christen so Aufgaben für die Gesellschaft wahr.

Gröne: Für meine Konfession gleicht sich da natürlich vieles oder überschneidet sich. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass es oft die gleichen Männer und Frauen sind, die sowohl in der Öffentlichkeit Verantwortung übernehmen wie auch im Gemeindeleben. Es ist offensichtlich völlig parteiübergreifend eine christliche Motivation, die dahintersteckt.

Rimkus: Unsere Hauptbotschaft ist: Man kann mit Scheitern und Schuld so gut umgehen, dass man hinterher trotzdem mit Freude weiterleben kann. Bisher haben wir auch nur das ehrenamtliche Engagement erwähnt, wobei die Kirchen über Diakonie, Caritas und andere Organisationen noch viel mehr gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Oder im Gesundheitswesen. Kirche stellt auch oft gesellschaftliche Vernetzung her. Bei der Quartiersentwicklung, was viele als Sozialromantik ansehen, sehe ich durchaus Chancen für die Kirchen.

Reiner Rimkus und Christian Gröne (r.) beziehen Stellung zu Glaubensfragen. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne Reiner Rimkus und Christian Gröne (r.) beziehen Stellung zu Glaubensfragen. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

Gröne: Die Kirchen wissen natürlich auch, dass wir vieles unserem historisch gewachsenem System im Verhältnis von Staat und christlichen Kirchen zu verdanken haben, beispielsweise bei Fragen der Finanzierung. Man darf nicht verschweigen, dass das in anderen Ländern nicht annäherungsweise möglich ist. Das ist Segen und Fluch zugleich, aber wir belegen das mit einem hohen Maß an Dankbarkeit und Wertschätzung.

Rimkus: Das ist die Solidarität vieler Menschen, auch derer, die nicht unmittelbar im Gemeindeleben aktiv sind. Es ist aber deshalb Segen und Fluch, weil wir aufgrund der demografischen Entwicklung in der Zukunft vielleicht einiges von dem, was wir jetzt noch tun, nicht mehr tun können, mangels finanzieller Mittel.

inherne: Wie schätzen Sie denn für sich die Auswirkungen der demografischen Entwicklung ein?

Rimkus: Vor 50 Jahren war unser Kirchenkreis, gemessen an der Mitgliederzahl, doppelt so groß. Wir haben jetzt noch gut 70.000 Gemeindeglieder. Ich glaube es ist realistisch, für die nächsten 50 Jahre eine weitere Halbierung anzunehmen.

inherne: Glauben Sie, dass sich dieser Trend aufhalten oder gar umkehren lässt?

Rimkus: Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, aber kann bei nüchterner Betrachtungsweise nicht davon ausgehen. Die christliche Weltkirche wird größer, auf anderen Kontinenten haben christliche Gemeinden Zuwächse. In Europa kann ich aber nicht ausschließen, dass die christliche Kirche immer mehr an Einfluss verliert. In der Türkei, wo sozusagen die Wiege des christlichen Abendlandes stand, kämpfen die letzten christlichen Gemeinden um ihre Existenz.

Gröne: Die Hoffnung ist in der katholischen Kirche natürlich genau dieselbe. Wir haben aber die Schwunderscheinungen genau so, vielleicht in Nuancen etwas anders. Die Zahlen fallen nicht so schnell, was sicherlich mit traditionellem katholischen Verhalten zu tun hat. Wir haben aber auch in den letzten vier, fünf Jahren unsägliche Zuspitzungen erlebt, die uns bis ins Mark erschüttert haben, auch uns vor Ort. Ich meine die Missbrauchsskandale und die Vorgänge um den Bischof Tebartz-van Elst.

Rimkus: Das letztere hat übrigens auch bei uns Austritte ausgelöst…

Gröne: Das hat jedenfalls dazu geführt, dass Menschen gesagt haben, wir verabschieden uns jetzt aus der „sichtbaren" Mitgliedschaft in der Kirche, weil wir das so nicht mehr mitmachen wollen. Es hat zu einem regelrechten Schub an Kirchenaustritten geführt, die wir natürlich spüren. Dazu kommt der demografische Faktor: Wenn Sie sonntags in den Gottesdienst kommen spüren Sie, wie alt eine Gottesdienstgemeinde werden kann, Familien- oder Kindergottesdienste sind da eine wohltuende Abwechslung. Ich bin jetzt 15 Jahre in Herne und habe miterlebt, wie schnell die Zahl der Aktiven, der Engagierten zurückgeht. Ich finde das besorgniserregend. Wenn diese Entwicklung so weitergeht wird man irgendwann die Frage stellen müssen, welche Kirchen wir noch benötigen.

Rimkus: Man muss schon einen Traditionsabbruch feststellen. Die Selbstverständlichkeit, mit der man früher in eine Konfession hineingeboren wurde, die man aufgenommen und übernommen hat, gibt es nicht mehr. Es ist immer unproblematischer, ohne eine Konfession in unserer Gesellschaft zu leben, was an sich ja auch in Ordnung ist. Tatsache ist aber auch, dass sich dadurch immer weniger Menschen engagieren.

Gröne: Wir müssen das aber auch in einen größeren Kontext stellen. Man kann das nicht einfach nur hinnehmen. Wir haben alle möglichen Dinge schon ausprobiert. Die katholische Kirche ist außerdem dabei, sich binnenkirchlich neu zu strukturieren, weil es notwendig ist. Beispielsweise ist die Betreuung von Gemeinden durch Geistliche nicht mehr in dem Umfang möglich, wie es seit Menschengedenken war, weil es immer weniger Pfarrer werden. Wir müssen hier vor Ort aus den Gemeinden in Herne eine Gesamtpfarrei bilden und kurz danach in Wanne-Eickel ebenso, so dass wir wenigstens organisatorisch die Dinge bündeln und zusammenfassen können. Ich weiß nicht, ob das der Weisheit letzter Schluss ist. Ich habe nämlich die Sorge, dass wir uns damit als Seelsorger zu sehr von den Menschen entfernen, wenn wir so große Einheiten bilden.

inherne: Gibt es dazu Vorgaben aus Paderborn, wie Sie hier vorgehen müssen?

Gröne: Nein, es ist Frucht langjähriger Überlegungen. Dabei wird uns viel an die Hand gegeben, es wird aber nicht diktiert. Es wird uns überlassen, mit welchen Strukturen wir vor Ort weiterkommen wollen. Natürlich in einem gewissen Rahmen.

Rimkus: Da sind wir etwas anders organisiert, ein evangelischer Kirchenkreis ist eine selbständige Körperschaft öffentlichen Rechts mit eigener Finanzhoheit. Deshalb haben wir ein großes Eigeninteresse wie wir mit dem Geld, das uns zur Verfügung gestellt wird, auskommen. Je weniger Gemeindeglieder wir haben, umso weniger Kirchensteuerzuweisungen bekommen wir. Vor zehn Jahren hatten wir noch 35 Gemeindepfarrstellen, jetzt sind es nur noch 25. Wir mussten damit auf den Rückgang unserer Gemeindegliederzahlen reagieren. Auch der Rest unserer kirchlichen Infrastruktur ist auf eine größere Benutzerzahl zugeschnitten. Wir müssen uns, auch wenn das wehtut, darauf einstellen. Für die fernere Zukunft kann das beispielsweise auch bedeuten, dass sich mehrere Kirchenkreise zusammenschließen müssen.

"Erneuerung war immer ein Ur-Thema der Christen." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne "Erneuerung war immer ein Ur-Thema der Christen." ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

inherne: Von der Symbolik ist es für Sie sicherlich am bedauerlichsten, wenn Kirchengebäude aufgegeben werden müssen. Gab es das schon in Herne, und wie ist die Perspektive für diese Sakralbauten?

Gröne: Wir haben noch alle Kirchen in Gebrauch. Es gibt auch keine konkreten Pläne, dass die eine oder andere veräußert werden soll. Andererseits ist es aufgrund des demografischen Wandels absehbar, dass in Zukunft mal so eine Entscheidung getroffen werden muss. Letztendlich ist es eine Kosten-/Nutzenfrage. Man kann nicht viel Geld in ein Gebäude stecken, das so nicht mehr gebraucht wird bei strenger Betrachtung. Aus dem Nachbarbistum Essen weiß ich, dass dort schon Kirchen abgerissen oder verkauft wurden, oder als Altenheim umgebaut wurden.

Rimkus: Wir sind da schon einen Schritt weiter. In Herne hat es schon den ersten Abriss mit der Paul-Gerhardt-Kirche gegeben. Auf dem Grundstück ist eine Supermarkt-Filiale entstanden. Es sind in Herne und Wannne-Eickel Standorte – allerdings keine Kirchen - an die Stadtmission verkauft worden. Wenn man es so hinbekommt, ist es noch halbwegs erträglich. Sowohl vom Gefühl als auch vom Portemonnaie her. Meist ist die Situation aber schwieriger, denn die Sakralbauten können oft wegen des Denkmalschutzes nicht abgerissen werden, und wir als Kirche wollen natürlich auch nicht alles als Folgenutzung zulassen. Ich glaube nicht, dass wir vor 2020 über weitere Abrisse nachdenken müssen, aber danach wird es vielleicht dazu kommen, weil wir als Kirche einfach das Geld brauchen, um weiter am Menschen arbeiten zu können. Es ist aber hier im Ruhrgebiet glücklicherweise so, dass wir über kurze Wege verfügen. Das ist kein Vergleich zu anderen Regionen.

Gröne: Trotzdem bedeutet es schmerzhaften Verlust. Eine ganze Reihe von Kirchen sind ja nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet oder wiedererrichtet worden, als man den Eindruck hatte, mit dem Christentum geht es weiter bergauf. Jetzt haben wir eine gegenteilige Bewegung. Wenn man das aber historisch einordnet: Solche sinusartigen Bewegungen hat es immer wieder in der Kirchengeschichte gegeben. Vor etwas mehr als 200 Jahren hat durch Napoleon auch eine umfangreiche Säkularisierung stattgefunden. Eine Kirche aufzugeben ist immer schmerzlich, aber Christsein hängt nicht an toten Steinen.

Rimkus: Glaube schafft sich Raum, sage ich immer. Die klassische Kirchengemeinde „eine Kirche, ein Pfarrhaus, ein Gemeindehaus" wird wohl so auf Lange Sicht nicht weiterexistieren. Auch wenn es für viele, gerade ältere Kirchenbesucher sehr schmerzlich ist.

Gröne: Ich möchte da auch noch mal einen anderen Gedanken mit herein bringen, ohne jetzt zu sehr frömmelnd zu klingen: Aber vielleicht ist diese ganze Entwicklung auch eine Zumutung des Heiligen Geistes. Vielleicht will Gott uns auch etwas damit sagen. Der uns damit auch ganz deutlich in Frage stellt. Wie werdet ihr eurem Auftrag in der Welt noch gerecht?

Rimkus: Ich möchte noch etwas zum bevorstehenden 500. Jubiläumsjahr 2017 der Reformation sagen: Wir feiern ja in dem Jahr das nächste ökumenische Kirchenfest, und ich möchte gerade jetzt nicht das Trennende der Konfessionen betonen, sondern das, was uns eint. Und die grundsätzlichen Anfragen an die Kirche, die Luther damals gestellt hat, auch noch einmal ganz aktuell für unsere evangelische Kirche heute konstruktiv diskutieren.

Gröne: Erneuerung war immer ein Ur-Thema der Christen.

inherne: Herr Rimkus, Herr Gröne, wir bedanken uns für das Gespräch!

Das Gespräch führten: Christian Matzko und Christoph Hüsken.