Angekommen!

10. November 2022 | Ausgabe 2022/3

Historiker Ralf Piorr erzählt die Einwanderungsgeschichte unserer Stadt

Beim Besuch der Bahnhofstraße im Jahr 1912 schreibt ein Reisender: „Es herrscht auf diesem Broadway von Herne zu jeder Tageszeit ein Leben wie in einer richtigen Großstadt. Die Gebäude zu beiden Seiten der Straße zeigen imposante Fronten. Recht bunt wird das Bild durch die in die Straße hineinragenden Ladenschilder und doppelt bunt wirken diese durch die Mischung von deutschen und polnischen Namen. Wenigstens fanden wir Gelegenheit, uns die Schreibweise der Vornamen Wladislaw, Franziscek, Josefoski anzusehen.“

Das erste Gefühl beim Betreten der Hauptgeschäftsstraße war also mit einer Spur von Fremdheit gemischt. Das Polnische überwog und man versteht sofort, warum Herne vor dem Ersten Weltkrieg als „polnische Hauptstadt Westfalens“ galt. Ein Etikett, das übrigens auch für die damaligen Ämter Wanne und Eickel gebräuchlich war. Stadt der Migration Herne war eine Stadt der Migration. Wie sollte es auch anders sein, wenn aus den verstreuten Kotten und Bauernsiedlungen mit knapp 2.000 Bewohner*innen im Jahr 1860 nur 50 Jahre später eine Großstadt mit 60.000 Bürger*innen, moderner Straßenbahn und mächtigen Industrieanlagen werden sollte. Mit dem Bergbau waren die Bevölkerungszahlen explodiert. Von 1870 bis 1910 hatten sich in jedem Jahrzehnt die Einwohnerzahlen verdoppelt. Und das Gros der Zuwanderer waren Arbeitsmigranten aus den preußischen Ostprovinzen, deutsche Staatsbürger, sprachlich und kulturell aber polnisch geprägt.

Die sogenannten „Ruhrpolen“, oft verächtlich als „Polacken“ bezeichnet, schufteten auf dem Pütt, in den Zulieferbetrieben und beim Kanalbau. Wie viele andere Einwanderungsgruppen zu allen Zeiten versuchten sie in der Fremde, ein Stück Heimat aufrechtzuerhalten. So entstand an Ruhr und Emscher ein eigenständiges polnisches Milieu mit Geschäften, Banken, Zeitungen und Vereinen. Und mit einer polnischen Partei, die bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen im März 1919 hinter der SPD die stärkste Fraktion im Stadtrat stellte. Über die Zukunft Hernes entschieden dann also Männer namens Chaliszewski, Kwiatkowski, Mogielka, Skorupka, Snigal und Sobocinski.

Myung-Chul Chang wurde 1970 in Südkorea als Bergarbeiter für die Zeche Erin angeworben.

Vietnamesische „Boatpeople“ in Herne, 1979.

Weiter nach Frankreich
Die „Ruhrpolen“ sind Geschichte. Etwa ein Drittel von ihnen kehrte 1918 in die Heimat zurück, ein weiteres Drittel zog weiter in die französischen Kohlereviere. Die im Revier verblieben Polen waren dann einem starken Anpassungsdruck unterworfen und verschwanden inklusive etlicher Namensänderungen in der Gesamtgesellschaft: Auf Wiedersehen „Majrczak“, willkommen „Mayer“!

Vom Gastarbeiter zum Einwanderer
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ruhrkohle der Schlüssel zum Wiederaufbau. Der bald einsetzende Arbeitskräftemangel führte dazu, dass ab 1955 die ersten Gastarbeiter angeworben wurden. Sie akzeptierten eher als die deutschen Arbeiter schmutzige und schwere Arbeit, verzichteten auf einen ihrem Verdienst entsprechenden Lebensstandard und wurden zumeist in Gemeinschaftsunterkünften und Wohnheimen einquartiert. Fast drei Jahrzehnte ging dieses Kalkül auf, bis sich dann in den 1980er Jahren langsam die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass die „Gastarbeiter“ auf Dauer in Deutschland blieben, dass sich etwa die Türken in Einwanderer verwandelt hatten. Herne wurde zu einer Stadt, in der sich zunehmend verschiedene Kulturen und kulturelle Identitäten versammelten. Zum ersten Mal tauchte der Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ auf – von der einen Seite des politischen Spektrums als Bereicherung begrüßt, von der anderen Seite als „Überfremdung“ gefürchtet. Die Parole „Ausländer raus“ war auch auf vielen Mauern in Herne und Wanne-Eickel zu lesen. Die Situation war fast paradox: Einwanderer wider Willen trafen sich in einem Einwanderungsland wider Willen.
Das sichtbarste Zeichen der sozialen Benachteiligung war dabei die Wohnsituation. Da Hausbesitzer sich weigerten, an Ausländer Wohnungen zu vermieten, übernahmen viele türkische Familien billigen Wohnraum in stark sanierungsbedürftigen Straßenzügen, die an Deutsche nicht mehr vermietet werden konnten. In manchen Gegenden wie dem Feldherrenviertel in Horsthausen, der Thies- und Knappenstraße in Bickern oder der Mathildenstraße in Wanne entstanden so türkische Communities mit einem eigenen sozialen und wirtschaftlichen Leben. Diese Entwicklung zeigt ihre Folgen noch in der Gegenwart, in der die Migrant*innen der ersten Generation, ihre Kinder und Kindeskinder längst unsere Gegenwart mitgestalten.

Türkische Kinder im Hinterhof einer Zechensiedlung in Herne-Sodingen, 1974.

Türkische Arbeiterin in einer Luftballon-Fabrik, Herne, 1980.

Wohlstand der Stadt
„Ihre Geschichte ist auch unsere Geschichte“, stellte die Herner Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering anlässlich des 60. Jahrestages des deutschtürkischen Anwerbeabkommens im Oktober 2021 fest. Eine Geschichte jedoch, die bisher nur selten im narrativen Kanon der Gesellschaft angekommen ist. Dabei könnten die Lebenserfahrungen älterer Migrant*innen so manchen gerne kolportierten Mythos der Mehrheitsgesellschaft korrigieren. „Es gehört zum Selbstverständnis der ersten Generation, dass sie ihren Teil zum Wohlstand dieses Landes beigetragen hat. Sie haben dafür richtig geschuftet. Mein Vater erzählte immer, dass sein Arbeitsweg vom Barbaraheim in Wanne zur Bielefelder Straße früher noch ungepflastert war. Als er in Rente ging, war er es“, erzählt Hüseyin Celik, Sozialarbeiter bei der „Gesellschaft Freie Sozialarbeit“ in Wanne.
Einwanderung ist ein steter Prozess – oft über Generationen hinweg. Dabei gehören Konflikte, Auseinandersetzungen, Missverständnisse und auch Ängste (auf beiden Seiten) dazu. Die Stadt Herne hat damit eine lange Erfahrung. Diese historische Erkenntnis verhindert keine gegenwärtigen oder zukünftigen Konflikte, könnte aber zu einem Stück mehr Gelassenheit im Umgang miteinander führen.

Text: Ralf Piorr     Fotos: Stadt Herne, Peter Kleu, Myung-Chul Chang