Kirmes-Tattoos zeigen nicht nur die Verbundenheit zur Kirmes

Crange geht unter die Haut

29. Juli 2016 | Freizeit Gesellschaft Kultur

Absoluter Kirmesfan

  • Pohlmann © Frank Dieper, Stadt Herne.
    Christina Pohlmann und sich die Kirmesmotive auch von Jessica Kerzel stechen lassen. © Frank Dieper, Stadt Herne.
Christina ist ein absoluter Kirmesfan. Ihre Kirmesvisionen hat sie sich von der Tätowiererin Jessica Kerzel stechen lassen, einer gebürtigen Wanne-Eicklerin, die im „Full Colour"
in der Bochumer Innenstadt arbeitet. Der Tattoo-Laden mit seinen sieben Angestellten gehört Oliver Nowok, ebenfalls Wanne-Eickeler.

Unerschütterliche Liebe

Das diesjährige Cranger-Kirmes-Motiv auf Plakaten und Crange-Pässen ist durch einen künstlerischen Beitrag Jessica Kerzels entstanden. Es zeigt einen Mann, auf dessen breiter Brust ein ausgewachsenes Kirmes-Tattoo prangt, ausgestattet mit der Inschrift „Für immer". Stadtmarketing wollte damit „den Kultstatus und die unerschütterliche Liebe zur Cranger Kirmes in den Blick nehmen", so Geschäftsführer Holger Wennrich. Doch Kerzel arbeitete nicht mit der Tätowiermaschine, sondern mit dem Pinsel: Bodypainting statt Tattoo. Für die Werbeaktion musste das Motiv nicht von Dauer sein.

Jahrmarkt und Tattoo

Zwischen Jahrmarkt und Tattoo besteht ein enger historischer Bezug. „Tätowierungen haben seit ihrem Erscheinen in Europa immer einen Bezug zu Jahrmarkt und Kirmes gehabt", sagt der Bildungswissenschaftler Dr. Tobias Lobstädt, der seine Doktorarbeit über Tätowierungen verfasst hat. „Im 18. Jahrhundert wurden die ersten tätowierten Südseebewohner gezeigt und später als Attraktion Schaustellerinnen präsentiert, die am ganzen Körper Tattoos trugen."

Mit der Muttermilch aufgesogen

„Jedes Jahr in meinem Leben war ich auf der Cranger Kirmes, sogar bei meiner Mama im Bauch", sagt Janine Thom (28). Ihr Kirmes-Windrädchen ist eines von mehreren Ruhrgebiets-Motiven auf ihrer Haut. Kirmesduft quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat auch Olivia Kowalzcyk (25), die ein dezentes Windrad an ihrem Arm trägt. „Meine Mutter war im August schon hochschwanger, als sie die Cranger Kirmes besuchte. Einen Monat später wurde ich dann geboren."

In die Riege leidenschaftlicher Kirmesfans reiht sich auch Jessica Kerzel ein. Zudem ist sie nicht nur Tätowiererin, auch ein großer Teil ihres eigenen Körpers ist eine einzige farbige Fläche aus zahlreichen Comic-Motiven aus den 80ern: Heidi, Calimero, Monster Muppets Show. „Meine Tattoos kann ich nicht mehr zählen, ich schätze, es sind etwa 20. Fürs nächste Tattoo schaut man, wo noch Platz ist."

Old-School-Motive

Biografisch gesehen hatte Jessica Kerzel gute Vorbedingungen. „Mein Vater, ein Chemiefacharbeiter, hatte schon immer Tattoos, die typischen Old-School-Motive Kreuz und Anker." Schon früh begann Jessica ihrem Erzeuger nachzueifern. Doch der zweite Elternteil reagierte erst mal nicht so wie erhofft: „Meine Mutter fand das nicht so toll, als sie davon hörte. Danach war sie aber begeistert." Jessica Kerzel hat schon als Kind gern gezeichnet. Landschaften, Tiere, viele Schriften: „Ich hatte in der Schule Kalligraphie." Zuletzt war sie in der Produktentwicklung einer Wittener Firma beschäftigt. Als der Betrieb verkauft wurde, beschloss sie, Tätowiererin zu werden.

Vorlagen aus dem Internet

Als „inherne" sie in der Brüderstraße besucht, hat Kerzel einen Termin mit einer alten Kundin. J. Schmidt (Name von der Redaktion geändert) hat sich ein Lunchpaket mitgebracht, denn die Sitzung wird mehrere Stunden dauern. Sie hat sich eine Vorlage aus dem Internet ausgedruckt, die sie auf die richtige Größe trimmt und danach auf die gewünschte Stelle auf dem Oberarm aufträgt. Dann
kommt die Tätowiermaschine zum Einsatz. Leise surren die Nadeln. „Heute wird alles viel feiner. Früher wurden die Nadeln noch per Hand gelötet. Heute werden sie fertig geliefert." Das ermöglicht Drei-D-Effekte und Schattenlinien. Und Zeichnungen, die aussehen wie auf Papier gemalt. Der Spaß beginnt bei 80 Euro für ein Herzchen.

Schmerzen sind Nebensache

Tut das weh? „Das Wappen war sehr schmerzhaft vom ersten bis zum letzten Stich", sagt Sebastian Kampa. „Der Förderturm bereitete keine Schmerzen." Natürlich liegt es nicht an den Motiven, sondern an der unterschiedlichen Empfindlichkeit der Haut. Wade tut weh, Schienbein weniger. Kampa ist in Polen geboren und mit 3,5 Jahren nach Wanne-Eickel gekommen. Seine Tattoos zeigen Motive der Stadt, demnächst kommen auch Kirmesmotive hinzu: „Fritz, das Riesenrad und das Kettenkarussell kommen auf die Innenseite des Beines." Im Urlaub in der DomRep hat ihn eine Frau aufgrund seines Tattoos am Strand angesprochen: Oh, ein Wanne-Eickeler! „Das ist im Ausland ein Wiedererkennungseffekt", freut sich Kampa.

Wanne-Eickeler Identität

„Ich wollte verewigen, dass ich Wannerin und Kirmesfan bin", sagt Christina Pohlmann. „Das Windrad bringt meine Heimatstadt zum Ausdruck", unterstreicht Olivia Kowalczyk. „Ich will zeigen, dass ich Wanne-Eickeler bin", sagt auch Sebastian Kampa. Bei Janine Thom beginnt die regionale Identifizierung in Crange und endet im Revier. „Ich habe den ganzen Arm mit Ruhrpott voll." Das Dortmunder „U", das Tetraeder, die Cranger Windmühle.

Zwischen Crange-Passion und Bergbau

„Ich bin Wanne-Eickeler und schon mein Uropa war Bergmann", sagt der Mechatroniker Patrick Bergmann (29). Auch der Nachname verweist auf die Familientradition. Der Unterarm ist für die Bergbaugeschichte reserviert und der sehr muskulöse Oberarm für die Crange-Passion - mit Gorilla, Achterbahn, Cranger Tor.

Warum Menschen sich dauerhafte Ornamente auf ihre Haut stechen lassen – diese Frage beantwortet Dr. Tobias Lobstädt: „Das Tattoo dient auf einer soziologischen Ebene der Selbstdarstellung. Der Tätowierte möchte damit seine Individualität anzeigen, gibt seine Vorlieben zu erkennen oder hat die Absicht, seinen Körper mit der Tätowierung als Schmuck aufzuwerten." Für Crange-Fans ist dieser Aspekt besonders wichtig: „Hinzu kommt dann noch die persönliche Inhaltsseite. Identitätsprägend bei Menschen aus Wanne-Eickel ist da sicherlich die Kindheitserinnerung an Kirmeslichter,
den Geruch gebrannter Mandeln und den Rausch einer Karussellfahrt. Diese innere Prägung wird mit einem Tattoo auf der Hautoberfläche zu einem Kommunikationsangebot über die eigene Herkunft."

Extrem-Verhalten

Nicht für jeden sichtbar trägt Olivia den Schriftzug „La vida loca", der an ihre „heftigste Kirmes" im Jahre 2012 erinnert. Von 8 bis 14 Uhr war sie in der Schule (sie holte das Abitur nach), von 16 Uhr bis Mitternacht briet sie Hamburger, danach war noch Abfeiern auf Crange angesagt. Jeden Tag. Aber es gab für dieses Extrem-Verhalten auch einen guten Grund: „Ich hatte gerade mit meinem Freund Schluss gemacht. Da musste ich mich austoben."

Sie tragen Crange auf der Haut. Und so wie die Jahre dahinfließen, wird sich die Haut unserer Befragten zu einem Sammelsurium aus Motiven gestalten, die eine Geschichte ihres Lebens erzählt.