Ehemalige Janoschschule war schon in den 40ern Flüchtlingsunterkunft

Déjà-vu

29. Juli 2016 | Gesellschaft

Selbst wenn die Janoschschule aktuell wieder leersteht, regt diese geschichtliche Parallelität zum Nachdenken an: Auch Bürger unseres Staates waren mal Flüchtlinge und auf das Mitempfinden anderer angewiesen.

Merkwürdige Situation

Schule-Bismarckstraße Die Janoschschule (hier eine Archivaufnahme aus den 50ern) diente nach dem 2. Weltrieg als Flüchtlingsunterkunft - und vor ein paar Monaten. © Bildarchiv der Stadt Herne.

Als ob das Leben ein Kreislauf wäre. Nach aufgeregtem Austausch wird den Besuchern der Tauffeier einiges klar. „Unsere Großeltern waren in der Schule Bismarckstraße als Flüchtlinge untergebracht", sagt Christel Scholz, geb. Lobe. „Das war eine merkwürdige Situation." Dann erzählt sie die Geschichte von zwei Frauen, ihrer Mutter und ihrer Tante, die Mitte der 40er einen weiten Weg der Flucht hinter sich gebracht haben und am Ende in Herne landeten.

Christel Pohl wohnte in der Volksschule

Frau Pohl, die als Christel Lobe am 6.Mai 1931 geboren wurde, flüchtete aus ihrer Heimat Daupe bei Breslau, Schlesien, über Österreich nach Herne und landete im November 1946 in der katholischen Volksschule an der Bismarckstraße, heute Ex-Janoschschule. Sie war mit ihrer Tante und ihrem Onkel unterwegs, die Mutter starb auf der Flucht, der Vater war in russische Gefangenschaft geraten. Christel Scholz erzählt: „In der Schule waren sehr viele Menschen untergebracht. Unter ihnen auch der Schlesier Robert Grabski - nach dem Literaten wurde später eine Straße in Herne benannt". Die Flüchtlinge wurden mit Essen versorgt, konnten sich aber auch selbst verköstigen.

Flüchtlinge - Menschen zweiter Klasse

Christel Pohl erhielt eine Putzstelle in der Villa Forell im Schloßpark, in der damals der Museumsdirektor Karl Brandt logierte.„„Sie fühlte sich von den Bewohnern als Mensch zweiter Klasse behandelt, sie war halt ein Flüchtlingsmädchen", gibt Christel Scholz die Erfahrungen ihrer Tante weiter. Sie hat sehr auf ihren Vater Ernst Lobe gewartet, der dann 1947 aus russischer Gefangenschaft in die Volksschule kam. Im gleichen Jahr traf ihr Bruder Reinhold Lobe ein - freigelassen aus englischer Gefangenschaft. „Der war sehr enttäuscht von der Unterkunft an der Bismarckstraße", sagt Christel Scholz. Er sagte: „Hätte ich gewusst, wie es hier ist, wäre ich in England geblieben". Das Leben musste sich wieder einrenken.

Lieselotte Heller: Chaos bei der Flucht

Ganz unabhängig davon floh Lieselotte Heller (* 1.9.1931), später Frau Lobe, vor den anrückenden Russen aus dem Kreis Königsberg in Ostpreußen. „Es herrschte ein großes Chaos", erinnert sich Lieselotte. „Während ich mit anderen zusammen mit dem Pferdefuhr-
werk aus einem Ende des Dorfes herausfuhr, wählte meine Mutter mit meinen drei Geschwistern den anderen Weg. Ich bin noch einmal zurück gelaufen, um sie zu suchen. Aber ich habe weder meine Mutter noch meine drei Geschwister je wieder gesehen." Ihr Vater starb in russischer Gefangenschaft.

Verwandte kümmerten sich nicht

  • Lieselotte Lobe und Christa Pohl. © Privat
Nach einem langen Fluchtweg kam sie in Herne bei ihrem Onkel und ihrer Tante an. Eigentlich alles gut, sollte man denken. Aber so war es nicht. „Die Verwandten haben sich nicht gekümmert", sagt Lieselotte, noch heute enttäuscht, „ich war halt ein Flüchtlingsmädchen." Sie macht auch die gleiche Erfahrung wie Christel Pohl: Flüchtlinge haben einen negativen Status im Ruhrgebiet der 40er, wobei es für sie
noch schlimmer war, es waren ja ihre Verwandten. Häufig wurden Flüchtlinge von der Bevölkerung verächtlich behandelt. Die 15-Jährige
arbeitete dann als Haushaltshilfe in Familien oder in Gaststätten - für Essen, Trinken, ein Zimmer und ein wenig Taschengeld. Bei einer ihrer zahlreichen Arbeitsstellen lernt sie Eva Geier kennen.

Eine neue Freundschaft

Die Geschichte schlägt manchmal seltsame Kapriolen, um Menschen zusammen zu führen. Ernst Lobe, der zunächst auch in der Volksschule wohnt, baut sich ein neues Leben auf, da seine Frau auf der Flucht gestorben ist. Er lernt Eva Geier kennen und lieben. Sie heiraten, verlassen die Flüchtlings-Unterkunft und beziehen eine gemeinsame Wohnung. Eva Geier wiederum wird die neue Freundinn von Lieselotte Heller. Und schon bald ist das Band geknüpft, das Lieselotte noch fester an die Familie Lobe bindet, denn Lieselotte verliebt sich in Reinhold Lobe, den Bruder von Christel . Und so kann man bilanzieren: Die Flüchtlinge der 40er lebten und liebten unter sich.
Aber alle Vorbehalte sind längst weggewischt und die Lobes, Pohls und Scholz‘ heute ein fester Bestandteil der Herner Bevölkerung. Christel Pohl starb am 11.7.2016 kurz vor Redaktionsschluss im Lukas-Hospiz im Alter von 85 Jahren.

Text: Horst Martens / Fotos: Bildarchiv der Stadt Herne, Privat