Arbeiten mit Bleistift, Stempel und Schreibmaschine
Zeitlos kommt man sich vor, wenn man die Büroräume der Familie Ibing in der Poststraße betritt. In hohen Regalen aus dunklem Holz stapeln sich die Akten aus rund 100 Jahren. Papiere liegen in Holztruhen verstaut, in einem mächtigen Vitrinenschrank stehen Bücher und Gesetzeswerke aus den 1920er Jahren. Auf den Schreibtischen liegen Bleistifte, Kassenbücher und eine Briefwaage. Einen Computer gibt es nicht.
Aus drei Wochen wurden 47 Jahre
Hier hat Doris Andrzejewski von 1974 bis 2020 gearbeitet. „Eigentlich hatte ich aufgehört zu arbeiten, nachdem unsere zweite Tochter zur Welt gekommen ist“, erinnert sich die gelernte Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte. Dann entdeckte sie eine Zeitungsannonce: Das Büro Ibing suchte eine Urlaubsvertretung für drei Wochen. Daraus wurden 47 Jahre, in denen sie Nebenkostenabrechnungen für mehrere Dutzend Gebäude mit dem Taschenrechner ausrechnete, Fristen kontrollierte und Handwerker beauftragte.
Unter dem Kissen ist das Versicherungs-Kataster der Stadt Herne von der Provinzial-Feuersozietät. Diesen Wälzer nutzte Heinrich Ibing als Sitzerhöhung.
47 Jahre lang hat Doris Andrzejewski im Büro von Heinrich und Martha Ibing gearbeitet.
Dabei nutzte sie die gleichen Materialien wie in ihrer Anfangszeit: ohne Computer, aber mit Papier, Stift und Tresorschlüssel.
„Der private Kontakt zwischen der Familie Ibing und uns war von Anfang an eng.
Aus Arbeit wurde Familie
29 Jahre alt war Andrzejewski, als sie in der Hausverwaltung von Syndikus Heinrich Ibing und seiner Tochter Martha anfing zu arbeiten. Sie hatte die Arbeit im Büro vermisst und da Eltern und Großeltern im selben Haus wohnten, waren die beiden Töchter betreut. Später, als das dritte Kind kam, lebten Mutter und Großeltern nicht mehr, also nahm Andrzejewski ihren Sohn mit ins Büro. „Frau Ibing wollte Patentante werden, das war von Anfang an klar“, erinnert sich die heute 76-Jährige. „Der private Kontakt zwischen der Familie Ibing und uns war von Anfang an eng.“ Man half einander und fuhr gemeinsam in den Urlaub. „Das war immer ein schönes Arbeiten und ein schönes Einvernehmen.“
Fleißig bis ins hohe Alter
Arbeiten und Leben waren eng verzahnt. „Das Büro war Martha Ibings Leben“, erklärt Andrzejewski. Noch bis zu ihrem Tod mit fast 96 Jahren zeichnete Martha Ibing Rechnungen ab. Auch ihr Vater Heinrich Ibing hatte bis zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 1985 gearbeitet. Sein Schreibtisch und sein Stuhl stehen noch da, unter dem Kissen das Versicherungs-Kataster der Stadt Herne von der Provinzial-Feuersozietät. Diesen Wälzer nutzte Heinrich Ibing als Sitzerhöhung.
Der Gehstock von Martha Ibing steht noch immer an seinem Platz neben der Bürotür.
Eingestaubte Akten aus Jahrzehnten.
Mit Zettel, Stift und Schreibmaschine
Viel verändert habe sich in all den Jahren nicht, sagt Doris Andrzejewski: „Die Bleistifte wurden mit dem Messer ordentlich angespitzt. Irgendwann habe ich einen Anspitzer gekauft.“ Auch die elektrische Schreibmaschine geht auf Andrzejewskis Initiative zurück. Immerhin hatte sie schon mit einer elektrischen Schreibmaschine gelernt und tat sich mit dem alten, mechanischen Modell in Ibings Büro schwer. Als es um das Jahr 2010 kein Kohlepapier mehr zu kaufen gab, schaffte Andrzejewski einen Kopierer an.
Wie im Schwarz-Weiß-Film
Einmal wollte ein städtischer Mitarbeiter eine Akte haben und bat, sie zu faxen. „Wir haben kein Fax“, teilte Doris Andrzejewski mit. „Dann schicken Sie mir eine E-Mail“, schlug der Mitarbeiter vor. „Wir haben keinen Computer, aber wir haben neue Bleistifte und einen neuen Anspitzer“, verkündete sie daraufhin. „Sagen Sie das nochmal!“ Als er dann kam, um die Unterlagen abzuholen, meinte er wohl nur: „Ich denke, gleich geht die Tür auf und Heinz Rühmann kommt rein.“ Dass man nicht in der Zeit verrutscht ist, erkennt man, wenn Doris Andrzejewski ihr Smartphone zückt und eine WhatsApp schreibt. „Meine Kinder haben mir beigebracht, wie man E-Mails schreibt. Jetzt kann ich auch online Urlaube buchen und einkaufen“, erklärt sie. Die Hausverwaltung ist nun an ein anderes Büro übergeben, die Räume in der Poststraße ausgeräumt. Einige Gegenstände sind im Heimatmuseum, die händisch geführten Akten sind datensicher vernichtet.
Ein Schlüsselbund der Geschichte.
Sogar eine alte Zeitungswaage liegt in einem der hinteren Archivräume des Kontors.