Die Familie Odermann steht seit dem 19. Jahrhundert in der fünften Generation auf Herner Märkten

Fisch von der Kaiserzeit bis heute

7. Mai 2019 | Gesellschaft

Die erste Generation stand jedenfalls unter dem Namen Steinhoff schon zu Zeiten von Kaiser Wilhelm und Reichskanzler Bismarck in unserer Stadt auf dem Markt. Durch den auflebenden Bergbau war Herne damals zwar schon aufstrebend, hatte aber noch weniger als 10.000 Einwohner.

„Ich wollte das Geschäft anfangs gar nicht"

Das so gewachsene Fischgeschäft wird seit 2010 von Ulrikes Sohn Uwe und seiner Frau Claudia geführt. Wer aber denkt, dass bei einer so langen Tradition alle Wege gleich sofort vorgezeichnet sind, täuscht sich gewaltig. „Ich wollte das Geschäft erst gar nicht haben", sagt Ulrike Odermann. Genau wie später ihr Sohn.

  • Familie Odermann heute: Uwe Junior, Luis, Claudia, Ulrike und Uwe Senior. ©Frank Dieper, Stadt Herne
Wie bitte? Ist Familientradition nicht heilig? „Schon", meint Ulrike Odermann, „aber die Bedingungen waren früher sehr hart. Der Fisch kam in Holzkisten und war gefroren. Er musste jeden Tag mühsam verkaufsfertig gemacht werden. Styropor gab es ja noch gar nicht. Am Stand trugen wir Holzschuhe, die mit Papier ein wenig gewärmt worden waren. Oh je, es war so kalt! Was habe ich geheult!" Da wird am Mythos Fisch, der angeblich immer so frisch im Wasser schwimmt und vielen als Symbol von Freiheit und Wohlbefinden gilt, doch arg gekratzt.

Auch für ihren Sohn Uwe war Fisch zunächst alles andere als der große Hit: „Ich hatte eine Schreinerlehre gemacht und wollte eigentlich Architekt werden." Aber dann kam es doch anders. Der 53-Jährige erinnert sich noch gut an seine ersten Erfahrungen. „Es war Weihnachten, und zu dieser Zeit fehlt immer Personal. Schon damals. Mein Vater fragte mich, ob ich auf dem Markt helfen wollte, da war ich gerade acht Jahre alt. Ich sollte Salzheringe verkaufen, aus einem Fass mit 700 Stück." Zwei Pfennig pro Hering kriegst du ab, sagte der Vater. Der kleine Uwe, pfiffig und schlau, rechnete sofort: 700 x 2 Pfennig sind 14 Mark, das war viel Geld, auch wenn er dafür den ganzen Tag brauchte.

Allerdings kam das Problem mit der Größe hinzu. „Das Fass war fast genauso groß wie ich. Die ersten Heringe konnte ich noch bequem herausnehmen, aber für die letzten musste ich schon ins Fass hineinspringen und wieder herauskrabbeln", erinnert er sich lachend.

Fisch und Bananen

Im Sommer aber lief Fisch manchmal nicht ganz so gut, da wurden zusätzlich Bananen verkauft. Nicht selten 40 Kisten an einem Tag. Die Geschichte der Familie Steinhoff/Odermann ist jedenfalls eine Zeitreise mit Erfahrungen, die so verschieden sind, dass man davon ein Buch schreiben könnte. „Nach dem Krieg gab es die Lebensmittelkarten", erinnert sich Ulrike Odermann. „Gute Kunden bekamen ihren Fisch aber oft auch ohne." Dafür zahlten sie später – mit Hilfeleistungen, aber auch mit jahrzehntelanger Treue. „Wir haben heute Kunden, denen hab' ich Lutscher gegeben, als sie noch kleine Kinder waren." Teilweise kommen sie von weit her, von Düsseldorf, Recklinghausen oder Wuppertal.Auf dem Markt stehen die Odermanns in Herne City, Sodingen, Elpeshof und Wanne-Süd. Viele kaufen nach strikt festgelegten Tagesabläufen ein, so dass man fast die Uhr nach ihnen stellen kann. Auch in der Nachkriegsphase war das so. „Die Bergleute selbst kamen nicht", sagt Ulrike Odermann, „es waren ihre Frauen." Rotbarsch und Seelachs waren die Renner. In unglaublichen Mengen zuweilen: „Am Gründonnerstag waren es oft 100 Körbe à 10 Kilo." Also eine volle Tonne an einem einzigen Tag.Lange Zeit gab es ja Fisch auch nur auf dem Wochenmarkt, sagt Uwe Odermann sen. (72). Karstadt war damals in Herne der erste, der damit im Warenhaus anfing. Supermärkte folgten, die Konkurrenz nahm zu. Und das Sortiment veränderte sich massiv: „Die Leute fingen an, nach Italien, Spanien oder Frankreich in den Urlaub zu fahren. Zuhause wollten sie dann auch den Fisch haben, der ihnen im Süden so gut geschmeckt hatte. Es kam die Dorade hinzu, der Wolfsbarsch, der Zander und vieles mehr." Die Auswahl ist heute viel größer, und Qualität ist oberstes Gebot. Räucherfisch lassen sich die Odermanns aus Nienburg schicken. Sie kennen dort einen Weserfischer, der den Aal selbst einsetzt und nach Maßstäben arbeitet, die strenger kaum sein könnten. Höhere Qualität, aber weniger Masse, so lautet ein wichtiger Trend. Mit mehreren hundert Kilo pro Woche verkauft Odermann allerdings immer noch respektable Mengen.

Der Wecker schellt um 4 Uhr

Der dafür zu leistende Einsatz ist groß. Der Wecker schellt um 4 Uhr, gegen 6 Uhr liefert der Großmarkt an. Dann geht’s zum Wochenmarkt. Bis die Auslage am Stand ansehnlich gefüllt und gestaltet ist, wird es 8 Uhr. Freitags, dem Großkampftag, endet der Arbeitstag erst um 19 Uhr. So etwas hält nur durch, wer sich mit seinem Produkt identifiziert und auch, vielleicht ebenso wichtig, von seinen Kunden mehr zurückbekommt als nur das Geld für die Ware. „Der Einkauf ist eine Sache, der kleine Schnack über die Theke hinweg eine andere", sagt der heutige Firmenchef. „Ich komme jedenfalls immer zufrieden nach Hause. Das kann sicher nicht jeder von sich sagen."Seine Eltern arbeiten noch heute mit, zwei lange Arbeitstage pro Woche. Anders ginge es für die Firma auch gar nicht, aber wohl auch nicht für die Eltern. „Da habe ich im Rentenalter keine Langeweile", sagt Uwe Odermann sen. „Es würde ja nichts bringen, sich jeden Tag auf die Bahnhofstraße zu stellen und dort die Leute zu zählen", grinst er.

Ein Funken Hoffnung auf die 6. Generation

Über 120 Jahre Fisch in Herne: Kaiserzeit, 1. Weltkrieg, Weimarer Republik, die Nazis mit dem 2. Weltkrieg, der Wiederaufbau, die Wirren des Bergbaus und dann noch die vielen Strukturveränderungen im Einzelhandel: Fisch Odermann als Brennglas der Geschichte! Kann es nach der fünften Generation noch weiter gehen? „Unsere beiden Töchter werden es wohl nicht sein", sagt Uwe Odermann. „Sie haben andere Pläne. Aber da gibt es ja noch meinen kleinen Neffen."

Mit Luis eines Tages in die 6. Generation?

Luis, zarte eineinhalb Jahre alt, hat schon jetzt ein ganz besonderes Verhältnis zum Fisch. Während sich die meisten anderen Kinder in diesem Alter vom Fisch abwenden, weil er nicht gerade wie eine Rose duftet, kann er nicht genug davon kriegen.

Jürgen Frech