Format Leseshow war erfolgreich

Flammende Krabbenwanderung im Alten Wartesaal

17. März 2019 | Gesellschaft Kultur

Die samtene Stimme der Autorin wird nachher brüchig, obwohl sie sich bei der titelgebenden Frage ("Shot oder Chai") jedesmal für den Chai entschied. Später bemerkt Karosh Taha dazu: "Ich klinge so weinerlich, weil ich erkältet bin und nicht, weil ich gleich weine."

Voll besetztes Haus

Wer bisher nur Ausstellungen im Alten Wartesaal besucht hat, der ist überrascht über die Stuhlreihen, die er jetzt vorfindet. So gut wie jeder Stuhl ist besetzt - das neue Format einer Leseshow ist erfolgreich gestartet. Till Beckmann, der nicht nur die Idee dazu hatte, sondern sie auch umsetzte, kann zufrieden sein. Möge er mit seinen innovativen Experimenten der Stadt Herne noch lange erhalten bleiben!

  • Buch an Wasserglas. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne
Gut dosiert und assoziativ

Schauspielerin Jennifer Ewert inszeniert mit der Autorin gekonnt ein abwechslungsreiches Spiel zwischen Lesung und Talk, Fragerunde und Quiz. Immer wieder werden auch die Besucher einbezogen. Beeindruckend eine Anfangspassage, in der sich die beiden Stimmen an unterschiedlichen Textstellen überlagern. Passend dazu setzen Sebastian Maier die Musik und Patrick Praschma die Visualisierung ein: gut dosiert und zugleich assoziativ. Mal leise Pianoklänge, mal pochendes Pulsieren, mal orientalische Anklänge, mal ein spannungsgeladenes Stakkato. Das Bildformat Praschmas passt sich komplett der Kuppelform der Wandfassade an, seine Themen sind die Hochhaus-Ästhetik und die wandernden Krabben.

Ideologie und Vorurteile

Karosh Taha wird berührt von der Widersprüchlichkeit der Ideologien. "Du sprichst sehr gut Deutsch!" wird sie von Jennifer Ewert begrüßt, ironisch, in Anspielung an einen AFD-Spruch, der medial seine Runden machte. Später wird eine AFD-Runde eingelegt, in der Taha mit den rechtspopulistischen Parolen konfrontiert wird. Und man merkt sehr genau, wie lustlos sie auf diese Fragen antwortet. Auch von der "richtigen" Seite kommt Kritik: Ein Journalist des Spiegel hat sich in einem Artikel über die Klischees beschwert, mit denen die Taha ihre Protagonisten beschreibt und tappt dabei selbst in die Falle der Klischees. Dazu der Kommentar der Autorin: "Mit negativer Kritik kann ich nicht viel anfangen, denn das Buch habe ich ja schon geschrieben." Die lakonische Bemerkung Ewerts: "Komisch, man merkt gleich, die Karosh kommt nicht von hier." Und nach einer Kunstpause: "Die kommt aus Duisburg." Ewert lobt die metaphernreiche Sprache Tahas'. Das erste sprachliche Bild begegnet uns schon im Titel: die Krabbe. Als Kind wird die Protagonistin Sanaa mal von einem Scherentier gezwickt. Das Krabbenmotiv taucht immer wieder auf - wie die Auseinandersetzung mit der Herkunft und der Vergangenheit, von der sie sich nicht lossagen kann.

Überdurchschnittliche Fabulierkunst

Abseits der politischen Positionen bleibt festzustellen: Karosh Taha, 1987 im Nordirak geboren, seit 1997 im Ruhrgebiet lebend, verfügt über eine überdurchschnittliche Fabulierkunst - und die ist auch in zahlreichen Rezensionen und einigen Preisen honoriert worden. Der Roman spielt in einem Hochhaus, in dem die Protagonistin Sanaa wohnt - mit ihrer Familie, zu der neben ihrem Vater Nasser und ihrer Mutter Asija auch ihre Schwester Helin, ihre Tante Chalida, sowie andere Tanten, Onkel und Cousins zählen. Und daraus ergibt sich ein unterhaltsames Familienspektakel.

  • Die Szenerie der Leseshow. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne
Kleine Flammen

Als lebensfeindlich empfinden die Autorin Taha und ihre Hauptakteurin Sanaa die betonstrotzenden Gebäude offensichtlich nicht. Von Isolation keine Spur, eher fühlen sie sich von der sozialen Kontrolle bedrängt. Angsträume - davon kann keine Rede sein, aber in dem Augenblick, als das Wort "Angsträume" fällt, fängt das Backpapier in der Mikrowelle Flammen. Alle halten den Atem an. Till Beckmann eilt herbei und entsorgt flugs das brennende Papier mit den irakischen Süßigkeiten. Zuvor hatte Jennifer Ewert nämlich die Autorin darin animiert, das heimatliche Backwerk vor Ort während der Show vorzubereiten - in der Hoffnung, ihre Gesprächspartnerin würde ihr bei dieser schon fast intimen Angelegenheit Näheres aus ihrem Privatleben anvertrauen. Pustekuchen. Stattdessen (gering) lodernde Flammen. Glück gehabt, dass die Feuerwehr nicht anrücken musste.

Horst Martens