„Herne hat mir alles gegeben“

10. November 2022 | Ausgabe 2022/3

„Wir waren alle in Gefahr. Man konnte nicht neutral sein.“

Peter Jeyaratnam kam als Flüchtling aus Sri Lanka und fand hier seine Heimat

1983 begann der Bürgerkrieg in Sri Lanka. Die Tamilen, die größte ethnische Minderheit, sahen sich von der dominierenden Bevölkerungsgruppe, den Singhalesen, unterdrückt und forderten einen unabhängigen Tamilenstaat. Peter Jeyaratnam war zu diesem Zeitpunkt Gastarbeiter in Singapur. 1985 wollte der Tamile eigentlich in seine Heimat zurückkehren, doch die politischen Unruhen machten es ihm unmöglich.

„Wir waren alle in Gefahr. Man konnte nicht neutral sein“, berichtet der 66-Jährige aus Jaffna im Norden des Landes. Jeyaratnam entschied sich für die Flucht in die DDR, weil es damals das einzige Land in Europa war, in das man ohne Einreisevisum kommen konnte. Die Reise dorthin war sehr strapaziös: „Aus Singapur nach Indien, von Indien nach Moskau, von Moskau in die DDR. Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich im Flugzeug gesessen habe.“ In der innerdeutschen Grenzstadt Helmstedt saß der Tamile 24 Stunden lang fest. „Dort habe ich ein Drei-Tages-Visum bekommen, mit dem ich durch Deutschland reisen konnte. Weil der Verlobte einer Mitreisenden Herner war und jemanden zur Abholung schickte, schloss sich Jeyaratnam an und landete schließlich in Herne.

Außen hart, innen weich
Deutsch konnte Jeyaratnam kaum. Ins Flüchtlingsheim in Horsthausen kamen Ehrenamtliche, die ihre Hilfe angeboten haben. „Ich erinnere mich besonders an eine Frau Anfang 50. Sie hat kein Englisch verstanden, aber wie ein Wasserfall auf Deutsch geredet. Da hatte ich keine andere Wahl“, erzählt Jeyaratnam schmunzelnd.

An Deutschen schätze er, dass sie nicht so oberflächlich seien. „Wenn man sie kennenlernt, sieht man, dass sie sehr bodenständig und anständig sind. Sie sind außen hart, aber innen weich“, findet der 66-Jährige. „Man muss hier auch sehr direkt sein und im Ruhrgebiet sind die Menschen noch direkter.“

Sri Lanka bedeutet „strahlende Insel“. 2018 war Jeyaratnam noch einmal dort, um seine erkrankten Brüder zu besuchen. In seinen Geburtsort zurückzukehren sei aber eine sehr schmerzhafte Erfahrung gewesen. „Ich finde immer noch, dass Sri Lanka ein Paradies ist. Aber wenn ich bedenke, wie es damals aussah und wie es jetzt aussieht – das ist einfach traurig. Im Norden gibt es eine hohe Militärpräsenz und sehr viel Natur wurde zerstört.“

„Deutsche sind außen hart, aber innen weich.“

Peter Jeyaratnam beim Deutschkurs 1985

Der Ruhestand muss warten
Anfangs hat Jeyaratnam als Übersetzer und Dolmetscher für Tamil/Deutsch gearbeitet. Weil er irgendwann etwas Neues machen wollte, entschied er sich für eine Erzieherausbildung. Für eine Vertretungsstelle von acht Monaten kam Jeyaratnam ursprünglich zum CVJM. Heute, 19 Jahre später, ist er immer noch dort tätig – inzwischen ehrenamtlich. Lange leitete er die „Offene Tür“, ein Angebot zur Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche. Obwohl er dieses Jahr offiziell in Rente gehen kann, hat Jeyaratnam seine derzeitige Stelle in der evangelischen Kita Holsterhausen um ein Jahr verlängert. Die Arbeit mit jungen Menschen erfülle ihn. „Mit Kindern bekommt man immer etwas zurück“, erzählt der Erzieher, der keine eigenen Kinder hat.

Auf Jeyaratnams Gemälde in den Räumen des CVJM steht das Miteinander von Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen im Fokus.

„Ich habe eine faire Chance bekommen. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Respekt als höchstes Gebot
Aufgrund seiner Hautfarbe gehört auch Rassismus zum Leben des 66-Jährigen. „Hin und wieder passiert es immer noch: Wenn Leute zum CVJM kommen und mich am Schreibtisch sitzen sehen, fragen sie, ob hier jemand arbeitet. Oder ich halte ihnen die Tür auf und sie laufen vorbei zu meinem vermeintlich ‚deutsch‘ aussehenden Mitarbeiter.“ Aber nicht nur an Alltagsrassismus ist Jeyaratnam gewöhnt, auch von einem körperlichen Übergriff in einem Supermarkt erzählt der Tamile. Dennoch sehe er eine positive Entwicklung. „Seit dem Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine haben wir zum Beispiel jeden Samstag ein ökumenisches Friedensgebet vor der Kreuzkirche. Reaktionen wie diese sind da und das ist gut.“ Respekt sei für ihn das höchste Gebot: „Das will ich auch den Kindern vermitteln. Wenn man Respekt hat, kommt die Dankbarkeit automatisch dazu.“ Welche Werte Jeyaratnam großschreibt, belegt auch ein riesiges Gemälde von ihm in den Räumen des CVJM. Neben christlichen Symbolen zeigt es das Miteinander von Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen und betont, wie wichtig ihm eine Willkommenskultur ist.

Auch wenn Herne kein Paris sei – dort wollte Jeyaratnam ursprünglich hin – Herne sei inzwischen seine Heimat. Er sagt: „Ich bin mit einem Koffer gekommen und Herne hat mir alles gegeben. Ich habe eine faire Chance bekommen. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Text: Katharina Weitkämper     Fotos: Thomas Schmidt, Peter Monschau