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„Keine Lücke zwischen mir und meiner Religion“

8. Mai 2015 | Gesellschaft Kultur

"Die Jungs in meiner Klasse sehen das mit der Religion etwas lockerer"

Ich treffe mich mit Habip Üzer (19) am Eingangstor zum Gelände des Türkischen Islam-Vereins in Herne-Mitte. Hinter dem unscheinbaren Tor verbirgt sich ein großer Hof, der von einem verzierten Minarett dominiert wird. Wir wollen uns gleich im großen Gebetsraum unterhalten, aber vorher machen wir einen kleinen Abstecher in den Vereinsraum. Bei einer Tasse Tee erzählt mir Habip bereits ein wenig über sich und den Verein. Der Neunzehnjährige, der aktuell sein Abitur am Mulvany-Berufskolleg absolviert, ist seit 2000 Mitglied des Vereins und seit drei Jahren auch als Vorsitzender des Jugendrats engagiert. Als solcher hat er regen Kontakt mit den anderen Verantwortlichen der Gemeinde, die rund 450 Mitglieder umfasst - davon circa 80 Jugendliche. Noch. Denn nicht nur den Kirchen mangelt es an Nachwuchs - auch in den Moscheen nimmt die Zahl der Jugendlichen immer weiter ab. Habip sagt: "Die Jungs in meiner Altersklasse sehen das mit der Religion etwas lockerer. Viele in meinem Alter haben auch keine Zeit mehr dafür. Die studieren und arbeiten mittlerweile."

Deutscher? Türke? Genau dazwischen!

Er ist nicht nur dabei geblieben, sondern übernimmt als Jugendratvorsitzender mittlerweile auch Verantwortung im Verein: "Mir gefällt es, dass ich helfe, meine Religion und Kultur ausleben zu können. Dass ich dafür mitsorge, anderen Leuten die Möglichkeit zu geben, die Moschee und die Kultur kennenzulernen." Es geht ihm darum, "Menschen das Gefühl geben, als wären sie in ihrer Heimat ... aber natürlich können sich Muslime auch in Deutschland heimisch fühlen", legt er nach. Und wo liegt für ihn die Heimat? Bezeichnet er sich selbst als Türke oder als Deutscher? "Ich glaube, ich wäre genau dazwischen. Ich bin kurdischer Abstammung. Meine Eltern habe ihre Kultur mitgebracht und die leben wir zuhause auch aus."

Verzierte Fliesen aus Kütahya

Wir befinden uns nun im großen Gebetsraum. Unsere Schuhe sind unten im Vorraum geblieben - denn ab hier sind überall Teppiche ausgelegt und Reinlichkeit hat im Islam eine große Bedeutung. Bis auf die schmuckhaften Wände und den gemusterten Teppich ist der Raum leer. Keine Bänke wie in der Kirche - denn zum Gebet wird im Islam gekniet.

Ich bekomme den Gebetsraum und seine Elemente reihum genauer erläutert. Zunächst wäre da die Mihrāb, die Gebetsnische. Süd-östlich nach Mekka ausgerichtet, befindet sie sich mittig vor Kopf des großen Raumes, in dem mehr als 400 Menschen Platz finden und gibt die Gebetsrichtung vor.

Von der Gebetsnische aus links befindet sich die Vortragskanzel, die sogenannte Kürsü. "Von dort predigt der Imam Texte aus dem Koran und rezitiert Interpretationen", erklärt Habip. In der rechten Ecke findet sich ihr Pendant - die Predigtkanzel (Minber) für das wichtige Freitagsgebet.

Die Wände und und Säulen sind mit verzierten Fliesen aus der anatolischen Stadt Kütahya versehen - der Ort ist bekannt für seine Tonarbeiten, die in vielen Moscheen Verwendung finden.

  • Keine Lücke zwischen mir und meiner Religion © Frank Dieper, Stadt Herne

Almosenpflicht, Ramadan, Gebetszeiten

Ich bekomme einen crashkurs. Die Fünf Säulen machen den Islam aus: Bekenntnis, Gebet, Fasten (Ramadan), die Wallfahrt nach Mekka und die Almosenpflicht. Der Verzicht auf Essen und Trinken ist Pflicht während des Ramadans, "aber das Fasten richtet sich individuell nach der Person. Die Gesundheit kommt immer vor dem Islam", sagt Habip. Kranke und Reisende können daher nachfasten, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Auch die Gebete können nachgeholt werden, sollte man eines während der vorgegebenen Zeit nicht verrichten können. Bestimmt wird die durch den Sonnenaufgang. In der Moschee leitet der Imam die Gebete - er unterrichtet die jugendlichen Muslime aber auch in arabischer Schrift und bringt ihnen den Koran näher. Alle fünf Jahre wird dem Verein ein neuer Imam mit Theologie-Diplom aus der Türkei zugeteilt - eine Kulturkommission ist dort für die Auswahl zuständig.

Als Haddschi aus Mekka zurückkehren

Wer körperlich und finanziell dazu in der Lage ist, soll den Haddsch, die Pilgerreise nach Mekka antreten. Habip sagt, dass Saudi-Arabien den einzelnen Herkunftsländern der Muslime ein Besucherkontingent zuteilt, "denn wenn man der ganzen Nachfrage nachgehen würde, könnte die Stadt das gar nicht aufnehmen. Hier in Europa muss man das noch nicht beschränken." In der Türkei, so erfahre ich, werden die Plätze aber durch eine Lotterie zugeteilt. Rund 800.000 von ihnen wollen jedes Jahr die Reise nach Mekka antreten. Manche von ihnen müssen bis zu zehn Jahre darauf warten. Ist es jedoch soweit, hat der Pilger mehrere Pflichten zu erfüllen, erklärt mir der Neunzehnjährige. Die bekannteste von ihnen lautet Tavaf und besteht darin, sieben Mal gegen den Uhrzeigersinn um die Kabaa, den schwarzen Block in Mekka zu beten.

"Die Reisen dauern in der Regel zwei bis vier Wochen, aber nur zwei Tage, wenn man es so kurz wie möglich halten will." Wer aus Mekka zurückkommt, darf sich als Haddschi bezeichnen.

Nur der Gebetsrufer fehlt

Verzierte Fliesen aus der Türkei, ein Minarett im Hof - gibt es eigentlich überhaupt einen Unterschied zum Islam in der Türkei? Habip: "Die fehlenden Gebetsrufer. Aber daran gewöhnt man sich. Man ist so aufgewachsen." Habip ist hier geboren und fühlt sich als Muslim in Herne auch wohl. Nur eines stört ihn: "Dass es in der Öffentlichkeit kein genaues Bild von Muslimen gibt." Stattdessen Klischees. Zum Beispiel: "Wenn ich etwas aus religiösen Gründen nicht machen will, soll das oft aufgrund der Ansichten meiner Eltern sein. Aber ich bin 19 Jahre alt und setze als gläubiger Muslime nur meinen eigenen Willen um!"

Doch auf der Realschule Crange hatte Habip Gelegenheit dazu, gegen solche Vorurteile anzugehen. Unter anderem im christlichen Religionsunterricht:"Ich konnte vieles aus dem Islam erläutern und konnte die Fragen meiner Mitschüler beantworten."

  • Keine Lücke zwischen mir und meiner Religion © Frank Dieper, Stadt Herne

"Terrorismus - das ist nicht der Islam"

Er wünscht sich, dass die Deutschen es lernen, den Islam und die türkische Kultur nicht einfach so in einen Topf zu werfen - denn viele Dinge, die behauptet werden, träfen überhaupt nicht zu. Nach einem Beispiel gefragt, druckst der eigentlich selbstbewusste Habip etwas herum. Es geht um Terroristen, die im Namen seiner Religion töten, um Ehrenmorde und ähnliches. Und dass all das nichts mit seiner Religion zu tun hätte: "Wir sagen, dass das kein Teil von uns ist. Das ist nicht der Islam. Religionen sind für Frieden und eine offene Gesellschaft. Für das Zusammenleben." Und es macht ihn traurig, wenn Leute vom Islam das Gegenteil behaupten: "Da fehlen einem manchmal die Worte. Das ist doch selbstverständlich! Mir ist keine Religion bekannt, die Gewalt vorschreibt."

Habip selbst betrifft diese Diskussion kaum und er ist auch noch nie wegen seines Glaubens angefeindet worden. "Aber das macht uns etwas Sorgen", gibt er zu.

Imame in der Kirche, Priester in der Moschee

Seine Gemeinde legt großen Wert auf interreligiösen Austausch. "Die Imame von uns sind oft im Kontakt mit der Kreuzkirche", sagt er. Es gibt gegenseitige Einladungen zu Gottesdiensten und Festen und so kommt es auch schonmal vor, dass der Priester zum Gebet in der Moschee ausruft und der Imam eine Sure in der Kirche rezitiert. "Wir laden die Leute herzlich dazu ein, sich ein Bild zu machen. Unsere Tür steht allen Kulturen und Religionen offen!"

Judentum, Christentum, Islam - Habip weiß und schätzt es, dass diese Religionen aufeinander aufbauen und miteinander verknüpft sind: "Wenn man nur weit genug zurückgeht, treffen sich diese drei." Dass Anhänger dieser Glaubensrichtungen miteinander leben, dass sei doch selbstverständlich. "Die Menschen sollen sich gegenseitig tolerieren. Das verlangen die Religonen von jedem einzelnen", sagt Habip überzeugt.

 "Keine Lücke zwischen mir und meiner Religion"

Gibt es denn Aspekte seiner Religion, mit denen er nicht übereinstimmt? Schließlich gestalten die fünf Gebete seinen Tagesablauf und er muss sich zum Beispiel an das Verbot von Alkohol halten. Habip sieht das aber entspannt: "Ich überlege immer, ob das, was ich mache, meinem Glauben entspricht und ich habe bisher noch nie erlebt, dass ich der Meinung war, da schreibt mir meine Religion was Falsches vor. An Freiheit nimmt mir das nichts." Und weiter: "Es entsteht keine Lücke zwischen mir und meiner Religion."

Mit vertauschten Rollen führen wir das Gespräch fort, denn nun Habip fragt mich, ob und inwiefern mein Bild vom Islam sich durch unsere Gespräche verändert hat. "Gute Frage", denke ich und überlege. Ich komme zu dem Entschluss, dass der Islam für mich nicht mehr so fremd ist wie zu Beginn. Simpel zu verstehen sogar. Weil es auch im Fremden viel Vertrautes gibt.

Text: Sascha Rutzen / Fotos: Frank Dieper