„Mein Präsident heißt Steinmeier!“

10. November 2022 | Ausgabe 2022/3

Tuncay Nazik arbeitet als Imam in Röhlinghausen – er kommt gebürtig aus der Türkei

Tuncay Nazik ist als Vorsitzender der islamischen Gemeinde Röhlinghausen über die Grenzen Hernes hinaus bekannt für sein soziales Engagement. Im Gespräch mit inherne ging es um seine Wurzeln, das Leben als Migrant in Deutschland und um Grundwerte der Demokratie.

inherne: Herr Nazik, seit wann leben Sie in Deutschland?
Tuncay Nazik: Das ist kompliziert. Mit einem Jahr bin ich nach Deutschland gekommen und war hier bis ich die erste Klasse der Gesamtschule hinter mir hatte. Danach ging es wieder zurück in die Türkei, wieder zurück nach Deutschland und dann wieder in die Türkei, wo ich meinen Uni-Abschluss gemacht habe. Danach bin ich endgültig nach Deutschland gekommen.

inherne: Warum dieses Hin und Her?
Nazik: Das ist wohl die klassische Situation einer türkischen Migrantenfamilie dieser Zeit. Meine Eltern sind damals davon ausgegangen, dass wir irgendwann wieder in die Türkei zurückkehren. Das hat sich dann aber anders entwickelt. Auch mein Vater lebt wie meine ganze Familie bis heute in Deutschland.

inherne: Sind Ihre Eltern auch praktizierende Muslime?
Nazik: Ja. Meine Familie ist fest im Glauben, gleichwohl aber den Grundwerten unserer Verfassung verpflichtet. Meine Tochter zum Beispiel trägt wie auch meine ältere Schwester ein Kopftuch, tut dies aber absolut freiwillig.

inherne: Kommen wir nochmals zurück zu Ihrer Ausbildung. Sie haben in der Türkei studiert?
Nazik: Ja, ich habe in der Türkei Islamwissenschaften studiert. In Deutschland habe ich mich dann mit Zertifikatskursen zum Imam weitergebildet.

inherne: Hat man denn als Imam einer solch kleinen Gemeinde ein auskömmliches Einkommen?
Nazik: Das geht, ja. Ich habe hier in der Gemeinde aber auch nur eine halbe Stelle, den Rest mache ich ehrenamtlich. Ich arbeite darüber hinaus bei der JVA als Honorarkraft, bin dort Seelsorger, und leite Kurse bei der Herner VHS.

„Meine Familie ist fest im Glauben, gleichwohl aber den Grundwerten unserer Verfassung verpflichtet.“

„Bei den jüngeren Generationen spielt die türkische Kultur nicht mehr so eine große Rolle.“

inherne: Das klingt nach einem vollen Terminplan und einem erfüllten Berufsleben. Wie kommt man überhaupt dazu, den Vorstand einer islamischen Gemeinde zu übernehmen?
Nazik: Schon mein Vater hat die Gemeinde auf den Weg gebracht. Früher gab es hier ganz in der Nähe ein Wohnheim für ausländische Arbeiter mit einem Zimmer für Freitagsgebete. Irgendwann wurde der Platz zu klein. Dann ergab es sich, dass ein kleiner Lebensmittelmarkt auf der Rheinischen Straße schloss und wir die Räumlichkeiten als Versammlungsraum nutzen konnten. Heute sind es etwa 80 Familien, die sich in unterschiedlichen Zusammensetzungen drei bis vier Mal in der Woche treffen.

inherne: Wie steht es um das Thema Integration über das Gemeindeleben hinaus?
Nazik: Bei den jüngeren Generationen spielt die türkische Kultur nicht mehr so eine große Rolle. Deutsche Einflüsse überwiegen hier, denn selbst vermeintlich abgehängte Türken oder jene, die sich so fühlen, merken spätestens im nächsten Türkei-Urlaub, dass sie letztlich ein Teil der deutschen Kultur sind. Deutschtürken erkennt man in der Türkei aus tausend Metern. Egal, wie gut man Türkisch spricht, egal, was man macht oder wie man sich anzieht, man bleibt ein „Deutschländer“.

inherne: Gleichwohl fahren aber viele Türken mit Stolz zurück in die Heimat ihrer Väter, um zu zeigen, was sie in Deutschland geschafft haben?
Nazik: Genau das nervt die Menschen in der Türkei. Insbesondere jetzt, wo die türkische Wirtschaft etwas angeschlagen ist. Ich würde mehr Respekt erwarten, denn die „Deutschländer“ bringen viel Kapital an den Bosporus.

inherne: Apropos Kapital: Die migrierten Menschen sind es auch, die auch bei uns dafür sorgen, dass ehemalige Geschäftsstraßen nicht vollends veröden. Dennoch gibt es immer wieder Kritik.
Nazik: Das ist schräg, ohne Frage. Nicht die Ausländer sind der Grund für die Geschäftsschließungen, es liegt vielmehr am Internet und am geänderten Konsumverhalten an sich. Umso lobenswerter ist es, wenn Menschen den Mut haben und Geld investieren. Darüber hinaus ist es doch so, dass in vielen Bereichen gar keine Deutschen mehr arbeiten. Andererseits ist es auch für gut ausgebildete Migranten schwer, weil vieles über einen Kamm geschoren wird. Nicht alle Türken sind Erdogan-Anhänger oder wollen ständig darauf angesprochen werden. Mein Präsident heißt übrigens Steinmeier!

inherne: Lassen Sie uns noch einmal auf die Religion zu sprechen kommen. Ihre Gemeinde steht für einen modernen und offenen Islam?
Nazik: Auf jeden Fall. Für Muslime, die in Europa leben, müssen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine absolute Selbstverständlichkeit sein. Klar ist auch: Es gibt bei allen kulturellen Unterschieden letztlich nur einen Islam, aber eben diese Differenzen machen das Zusammenleben nicht immer leicht. In Deutschland haben wir eines der weltweit besten Grundgesetze und wer sich damit auseinandersetzt, der sieht: Der Islam an sich hat kein Problem mit Demokratie. Wichtig ist vielmehr, zwischen Islam und Politik zu unterscheiden. Leider gelingt das nicht überall. Wenn jemand sagt: „Gott sagt euch, macht das jetzt so“, dann kann ich damit vor allem bildungsferne Schichten lenken, was in vielen Ländern auf der Welt aktuell genau so passiert.

„Nicht alle Türken sind Erdogan-Anhänger oder wollen ständig darauf angesprochen werden.“

Interview und Fotos: Philipp Stark