Nicht mehr nur Opfer sein

20. November 2020 | Ausgabe 2020/3

Der Weiße Ring betreut Menschen nach Gewalttaten

Manche wollen nur eine Information und melden sich danach nie wieder, andere brauchen lange, intensive Betreuung, um wieder Vertrauen ins Leben fassen zu können. Brigitte Grüning betreut beim Weißen Ring in Herne Opfer von Gewalttaten.

Selbstwertgefühl aufbauen
„An uns kann sich jeder wenden, der Opfer einer Gewalttat geworden ist. Das muss keine vorsätzliche Straftat gewesen sein, auch nach fahrlässigen Taten helfen wir. Wir sind die Lotsen im System“, beschreibt Grüning ihre ehrenamtliche Arbeit. „Manchmal ist es besser, mit jemand Fremdem zu sprechen, weil man es der Familie nicht vollständig erzählen kann und weiß, dass sie sich Sorgen machen.“ Dann kann man sich an das ehrenamtliche Team wenden. Die Unterstützung geht von kleinen Tipps, was in welcher Reihenfolge zu tun ist, bis zur Begleitung bei Anwaltsterminen oder Gerichtsprozessen. „Wir begleiten die Opfer, aber wir übernehmen nicht alles für sie. Selbst aktiv werden ist der erste Schritt raus aus dem Opferstatus. Wenn jemand Hemmungen hat, einen Anwalt anzurufen, sitze ich gerne daneben und übernehme das Gespräch, wenn es nicht mehr geht. Manche sind durch die Tat in ihrem Selbstwertgefühl so weit gestört, dass sie das nicht alleine können. Sie müssen das langsam wieder aufbauen“, so Grüning.

„An uns kann sich jeder wenden, der Opfer einer Gewalttat geworden ist.“

Brigitte Grüning vom Weißen Ring.

Vor Ort gut vernetzt
1976 wurde der Weiße Ring in Mainz gegründet. Damals gab es eine Reihe von Reformen, die sich an Täter richteten. Damit auch Opfer mehr Unterstützung bekommen, schlossen sich zunächst ein paar, dann immer mehr Menschen zusammen, um zu beraten und zu begleiten. Inzwischen gibt es in jeder größeren Stadt und jedem Kreis eine Außenstelle. „Für diese Arbeit ist es wichtig, dass man gut vernetzt ist. In der eigenen Stadt kennt man sich besser aus“, erklärt Grüning, die die Herner Außenstelle leitet.

1994 kam sie zum Weißen Ring, als ihre Kinder flügge wurden. Inzwischen organisiert sie die Außenstelle, nimmt Anrufe entgegen, beantwortet E-Mails, verteilt die Fälle auf die Mitarbeitenden. Je nach persönlichen Stärken wählt sie ihre Mitstreiter aus. Einer kennt sich zum Beispiel gut mit dem Internet aus und kann Opfern von Cyberkriminalität helfen. Bei anderen zählt auch das Äußere: „Ich kann keinen jungen Menschen zu einer alten Dame schicken, die Opfer des Enkeltricks geworden ist und keinen Mann in die Wohnung einer Frau, die von einem Mann missbraucht worden ist“, weiß Grüning. Der Weiße Ring hat kein Büro, sondern trifft die Opfer in deren Wohnung oder auch an öffentlichen Orten, wie Cafés, im Park oder auch in Beratungsstellen. Die Entscheidung, wohin es geht, trifft das Opfer, das auch anonym bleiben kann.

„Für diese Arbeit ist es wichtig, dass man gut vernetzt ist. In der eigenen Stadt kennt man sich besser aus.“

Tipps und Hilfe
120 bis 150 Personen wenden sich jedes Jahr an die Herner Außenstelle. Etwa die Hälfte von ihnen hat sexualisierte Gewalt erlebt. Gerade misshandelte Männer wissen sonst oft keinen Anlaufpunkt. Bei den Anrufern handelt es sich nicht nur um aktuelle Fälle. Manche berichten auch von lange zurückliegendem Missbrauch in der Kindheit. Brigitte Grüning und ihr Team können dann erklären, welche Möglichkeiten die Opfer haben, welche Hilfen sie bekommen können. Das können psychische Hilfen sein, aber auch materielle, wenn zum Beispiel nach einer Tat ein Fenster repariert werden muss und keine andere Stelle zahlt oder Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz zu stellen sind. Mitunter geht es auch um kleine, aber sehr wichtige Tipps. Zum Beispiel wenn eine misshandelte Frau aus der Wohnung ihres Partners auszieht und zuerst ein eigenes Konto einrichten muss.

So persönlich wie die Fälle oft sind: „Ich bin nicht die Freundin, sondern Teil eines schlimmen Lebensabschnitts. Wenn die Menschen wollen, können sie mich danach auf der Straße grüßen oder wir trinken mal einen Kaffee zusammen. Oder sie können durch mich hindurch gucken. Beides ist in Ordnung“, findet Grüning.

Text: Nina-Maria Haupt    Fotos: Frank Dieper