Frauen mit Behinderung

Selbstbestimmt leben – auch in der Krise?!

18. März 2022 | Gesellschaft
Foto: Wie es Frauen mit Beeinträchtigungen während der Pandemie erging, diskutierten Fachleute auf der Tagung „Free as a bird - Reloaded“. ©Frank Dieper, Stadt Herne

Zur Tagung, die nach zwei Jahren Pause zum ersten Mal online stattfand, fanden sich Fachleute sowie Vertreterinnen und Vertreter der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in Herne zusammen. Sie wurden durch Bürgermeisterin Andrea Oehler begrüßt, die den Wunsch ausdrückte, solch eine Fachtagung zweimal im Jahr stattfinden zu lassen, um das Thema weiter nach vorne zu bringen.

Der Frage, ob es inzwischen – fünf Jahre nach Beschließung des Bundesteilhabegesetzes – tatsächlich mehr Selbstbestimmung für Frauen und Mädchen mit Behinderungen gebe, ging Dr. Monika Rosenbaum vom Netzwerkbüro für Mädchen mit Behinderung NRW nach. Durch die pandemischen Einschränkungen sei die Selbstbestimmung dieser Gruppe stark eingeschränkt worden. Informationen seien nicht barrierefrei präsentiert worden und durch die Betretungsverbote in Werkstätten hätten viele ihren Lebensmittelpunkt und soziale Kontakte verloren, erläuterte Dr. Rosenbaum. „Corona hat vieles, das mühselig erreicht worden ist, in Frage gestellt.“


Die Arbeit von Frauenbeauftragten

Dem Thema Gewaltschutz in der Behindertenhilfe widmeten sich anschließend Andrea Stolte und Marion Steffens von der Einrichtung „GESINE Intervention“. „Menschen mit Behinderung sind überproportional von Gewalt betroffen“, erklärte Stolte. Neben ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerinnen sind Andrea Stolte und Marion Steffens auch Ausbilderinnen für Frauenbeauftragte in Werkstätten. Frauenbeauftragte gibt es seit 2017. Sie sind selbst in den Werkstätten beschäftigt und stehen ihren Kolleginnen als Ansprechpartnerinnen auf Augenhöhe zur Verfügung. Auch die Arbeit der Frauenbeauftragten sei durch die extreme Isolation in Corona-Zeiten stark erschwert worden, so Steffens. Als positive Entwicklung führte sie jedoch auch an, dass Frauenbeauftragte vom pandemiebedingten Digitalisierungsschub profitiert und sich wertvolle digitale Netzwerke gebildet hätten.

Isolation und Wegfall der Tagesstruktur
Einen praktischen Einblick bot Sabriye O`Mahoney, Teilhabeberaterin für die trägerunabhängige Beratungsstelle der wewole-Stiftung. Sie berät Menschen mit und ohne Behinderung in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. O`Mahoney berichtete, dass die Pandemie für viele Menschen mit Einschränkungen nur schwer greifbar gewesen sei, sie aber trotzdem realisiert hätten, wie wichtig es ist, etwas für das Gemeinwohl zu tun. Von diesem Einsatz sei sie sehr berührt gewesen. Menschen mit Behinderung litten besonders unter dem Wegfall der Tagesstruktur und ihrer sozialen Kontakte. Das bestätigt auch Sina Borowy, Werkstattratsvorsitzende der wewole, die ihre ganz persönlichen Erfahrungen der Isolation schilderte. Dieses Gefühl hänge auch mit der Tatsache zusammen, dass sie alleine lebe. Im Gegensatz dazu hätten, so O`Mahoney, „Menschen, die in besonderen Wohnformen leben, noch den Kontakt zu Mitbewohner*innen, was ihnen ein Gefühl des Zusammenhalts und Stärke gegeben hat“. Im Hinblick auf die Wünsche, die sich als Folge aus der Corona-Pandemie entwickelt haben, erklärte die Teilhabeberaterin: „Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderungen sichtbarer werden. Die Politik sollte diese Menschen auf die Agenda nehmen.“

Weiter Weg zur Inklusion
Zuletzt tauschten sich Rochus Wellenbrock von der wewole-Stiftung, Matthias Jacobstroer von der Diakonischen Stiftung Wittekindshof sowie Bettina Szelag, Vorsitzende des Beirates für die Belange von Menschen mit Behinderungen, über die Lehren aus diesen Berichten aus. Wellenbrock gab zu: „Wir haben noch einen ganz weiten Weg zur Inklusion vor uns. In der Pandemie haben wir festgestellt, wie weit wir eigentlich noch zurückliegen.“ Szelag gab sich optimistisch hinsichtlich der konkreten Entwicklung in Herne: „Wir haben hier sehr viel Barrierefreiheit schon herstellen können und viele Türen geöffnet.“