Gedenken

Stadt Herne erinnerte an die Opfer der Shoah

26. Januar 2024 | Gesellschaft
Foto: Thomas Schmidt, Stadt Herne

Anlass für die Gedenkveranstaltung war der bundesweite Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, der seit 1996 in Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 begangen wird.In seiner Gedenkrede bezog Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda ebenso eindeutig und klar wie engagiert Stellung gegen rechtes Gedankengut und völkische Umtriebe. In Herne gestalten seit vielen Jahren Schüler*innen von weiterführenden Schulen die Gedenkstunde zum 27. Januar. In diesem Jahr waren es Schüler*innen der Gesamtschule Wanne-Eickel unter anderem mit einem Gedicht und Mahnungen, wachsam gegen rechte Tendenzen zu sein.

  • Impressionen der Gedenkveranstaltung im Kulturzentrum und an dem Shoah-Mahnmal. Foto: Thomas Schmidt, Stadt Herne

Eine Schülerin der Menschenrechte-AG der Gesamtschule verlas einen Brief den Esther Hocherman, Herner Überlebende der Shoah, und ihre Tochter Irit Matan aus Israel an Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda aus Anlass der Gedenkstunde geschickt hatte. Esther Hocherman war zugegen als am 27. Januar 2010 das Shoah-Mahnmal auf dem Willi-Pohlmann-Platz eingeweiht wurde. „Die Reaktion des deutschen Volkes auf die Ereignisse vom 7. Oktober hat uns klargemacht, dass Deutschland bereit ist, die Verantwortung für die Shoah zu übernehmen. Deutschland leugnet nicht den Antisemitismus, der immer noch das jüdische Volk und Israel bedroht, und ist uns zur Seite getreten“, heißt es unter anderem in dem Brief mit Blick auf die terroristischen Überfälle auf Israel aus dem Gazastreifen und die damit verbundenen Gräueltaten im Herbst vergangenen Jahres.

Außerdem wurde ein besonderes Gemälde präsentiert, das die Stadt Herne als Dauerleihgabe von Bert Günzburger erhalten hat, einem Nachfahren der jüdischen Herner Familien Elias und Günzburger. Deren Familiengeschichte gehört – wie die von Esther Hochermann – zu den Geschichten, die exemplarisch für die Verfolgung der Juden in Herne stehen. Das Bild der ehemaligen Synagoge von Herne des Malers Alexander Dettmar erinnert an damaliges jüdisches Leben in unserer Stadt. Es wird seinen Platz im Kaminzimmer von Schloss Strünkede finden. Somit entsteht dort eine weitere Stelle des Gedenkens in Herne.

Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung sprachen am Shoah-Mahnmal Aaron Naor (Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen), Pfarrer Stefan Grote (Evangelischer Kirchenkreis Herne), Pfarrer Georg Birwer (Katholisches Dekanat Emschertal) und Tuncay Nazik (Islamische Gemeinde Röhlinghausen) Gebete und die vielen Teilnehmenden verharrten schweigend.

Die Stadt Herne unterstützt die Kampagne #NieWiederIstJetzt der NRW-Landesregierung. Mehr Informationen dazu unter: https://www.land.nrw/niewiederistjetzt

Auszüge aus der Rede von Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda: 

Meine Damen und Herren,

bereits die Gedenkveranstaltungen im vergangenen November zum 85. Jahrestag der Pogromnacht waren angesichts der Nachrichten von den Terrorangriffen der Hamas auf Israel und den Demonstrationen von islamistischen Extremisten von einer besonderen Schwere geprägt.Seitdem hat sich leider noch nicht sehr viel zum Positiven gewendet. Im Gegenteil: Hernerinnen und Herner berichteten mir immer wieder von ihren Ängsten und einer großen Verunsicherung angesichts der bevorstehenden Europawahl in diesem Jahr und die damit verbundenen Sorgen vor dem Aufwind rechtsextremer Parteien.

Es ist eine traurige Entwicklung, die auch mir große Sorgen bereitet und keine Ruhe lässt. Insbesondere mit Blick auf die aktuellen Ereignisse rund um aufgedeckte Geheimtreffen zwischen Werteunion und
AfD-Politikern sowie Rechtsextremen und finanzstarken Unternehmern. Was wir sehen, ist erschütternd.

Die Bedrohung unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft ist real. Wir dürfen diese antidemokratischen Tendenzen nicht verharmlosen. Anfeindungen geschehen längst nicht mehr unterschwellig und hinter geschlossenen Türen, sondern präsent und öffentlich: Beispielsweise durch die Verwendung von NS-Sprache von rechtsextremen Parteien in Fernsehinterviews oder durch einen Sprachgebrauch, der die freiheitlichen Grundrechte nicht nur von Menschen mit Migrationsgeschichte verletzt. Bewusste Grenzüberschreitungen sollen das gesellschaftliche Klima vergiften und unser soziales Gefüge zerstören. Alles das, was Deutschland stark gemacht hat: Die soziale Marktwirtschaft, die solidarische Gesellschaft sowie eine weltoffene Lebensatmosphäre, die unseren Wohlstand gesichert hat, sollen weg.

Meine Damen und Herren, sind wir wirklich so leichtfertig, irgendwelchen gefühlskalten, hassverzerrten nationalistischen Unmenschen die Verantwortung für unser Zusammenleben zu übertragen?

Ich denke da ganz aktuell an den Euphemismus „Remigration“. Dieser wird von rechtsextremen Parteien gerne als Tarnvokabel für einen Plan verwendet, der darauf abzielt, eine große Anzahl von Menschen aus unserer Mitte des Landes zu verweisen. Wir sprechen hier von Zwangsausweisungen, um ganz deutlich zu werden. Zwangsausweisungen, weil man angeblich kein richtiger Deutscher ist. AfD-Mann Höcke spricht von einer Politik der wohltemperierten Grausamkeit. Wenn man darüber nachdenkt, wird erst die ganze Ungeheuerlichkeit des Plans erkennbar. Wissen Sie eigentlich, wer von uns zwangsausgewiesen werden soll? Haben nicht viele von uns eine familiäre Migrationsgeschichte? Aber wann sind wir denn würdig, hierzubleiben? Wer entscheidet darüber und wohin sollen denn Betroffene gewaltsam abgeschoben werden? Nach Afrika?

Schauen Sie sich in der Gesellschaft um, welche Lücken diese Deportationspläne reißen würden. Direkt in unserem Leben: Freunde würden verschwinden, Sportvereine auseinandergerissen, Busfahrer, Lehrer, Pflegekräfte, Taxifahrer und viele mehr. Für dieses menschenfeindliche und menschenunwürdige Leitbild soll derzeit politisch der Boden bereitet werden.

Hinzu kommen rechtsextreme Schmierereien, Vandalismus und körperliche Übergriffe sowie die Verbreitung von rechtsextremen Gedankengut in den sozialen Medien – das alles sind offensive Angriffe auf die Grundsätze unserer freiheitlichen Demokratie. Bereits Kinder und Jugendliche kommen durch Videos auf TikTok mit hasserfüllten Inhalten und Hetze ungefiltert in Berührung. Oft reicht dafür schon ein einziger Klick. Deshalb muss der Fokus aus meiner Sicht in Zukunft noch verstärkter auf einer präventiven Aufklärungsarbeit liegen.

Ob im digitalen oder im öffentlichen Raum – auch ein ungeschultes Auge erkennt, dass die Masken gerade reihenweise fallen und hasserfüllte Gesichter zum Vorschein kommen. Die rechtsextreme Propaganda nimmt neue, vielschichtige Dimensionen an. Hemmschwellen sinken. Was sie jedoch vereint, ist eine rassistische und diskriminierende Grundhaltung, die Ausgrenzung, Hass und Gewalt zementieren soll. Nicht mit uns.

Aus diesem Grund fordert uns der Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr besonders eindringlich dazu auf, nicht nur der Opfer der grausamen NS-Zeit zu gedenken, sondern unseren Blick kritisch und wachsam auf die Gegenwart und auf unsere Zukunft zu richten. Denn nur, wenn wir HEUTE gegen jegliche Form von Hass, Hetze und Gewalt Haltung zeigen, werden wir auch MORGEN respektvoll und tolerant zusammenleben können. Es ist doch vor allem das Leben unserer jungen Generation, das jetzt vor einem Wendepunkt stehen könnte, der unser ganzes Leben verändert. Schaut bitte genau hin, Ihr Jungen, lasst euch nicht blenden.

Meine Damen und Herren,

in Herne sind wir uns einig: Antisemitismus, Rassismus und Extremismus sind ein unmissverständlicher Ausdruck einer menschenfeindlichen Weltsicht, die mit der Ablehnung von Freiheit, Vielfalt und unseren demokratischen Werten einhergeht. Diese Sichtweise ist brandgefährlich und hat nichts mit unserer modernen Gesellschaft gemein. Deshalb war es auch richtig, sich als Stadt an der Kampagne #NieWiederIstJetzt der Landesregierung zu beteiligen.

Ein rückwärtsgewandtes, destruktives Denken passt nicht in eine Zeit des fortschrittlichen Wandels. Deshalb müssen wir alle gemeinsam unbeirrt Farbe bekennen. Wir dulden kein völkisches Gedankengut, kein menschenverachtendes Weltbild, kein antidemokratisches Verhalten. Antisemitismus hat keinen Platz in unserem Weltbild, nicht nur in der friedlichen Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der Zukunft unseres Landes.

In Herne haben wir den Blick stets nach vorn gerichtet. Wir sind stolz auf die Dynamik und den Wandel, den wir aktuell durchlaufen. Diese positive Entwicklung fußt auf Solidarität und einem guten Miteinander, nicht auf Ausgrenzung und Spaltung. Wir lassen uns nicht vergiften.

Wir lassen auch nicht zu, dass die schrecklichen Gräueltaten der Shoah in irgendeiner Form relativiert werden.

Deshalb bin ich froh, dass Sie mit Ihrer heutigen Teilnahme diese Haltung sichtbar machen. Das ist gut und wichtig, denn für die demokratischen Werte in unserer vielfältigen Stadtgesellschaft müssen wir immer wieder neu einstehen – öffentlich und solidarisch. Dafür brauchen wir Sie alle. Es muss unser Anliegen sein, die Potenziale aller Menschen zu heben, die sich für unsere Stadtgesellschaft stark machen. Heute geht es also nicht allein um unsere Geschichte, sondern wir bringen heute auch zum Ausdruck, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.

Wir wissen aber auch: Toleranz, Respekt und Zivilcourage können nicht einfach verordnet werden. Wir müssen diese Werte selbst leben und vorleben – im Beruf, im Privaten, aber auch bei unseren gesellschaftlichen Aktivitäten. Wir werden nicht wegsehen, wenn antisemitische Ideologie durch verfassungsfeindliche Parteien oder religiösen Extremismus verbreitet werden. Wir werden uns aktiv dagegen zur Wehr setzen. Und das jeden Tag. Unsere Leitschnur ist das Grundgesetz.

Wer bei uns zu Gewalt und Ausgrenzung aufruft, der ist fehl am Platz. Der gehört nicht zu einer Stadtgesellschaft, die respektvoll und gleichberechtigt zusammenlebt und gemeinsam die Zukunft gestaltet. Ob in den Schulen, in den politischen Gremien oder im gesellschaftlichen Leben – bei uns gilt: miteinander statt gegeneinander. Wir werden auch in Zukunft Probleme im Zusammenleben nicht verschweigen, wir werden sie benennen: um dann gemeinsam Lösungen zu finden.

Um das gute Zusammenleben in Herne zu kultivieren und uns gegen jegliche Form von Gewalt auszusprechen, haben wir als Stadt bereits vor einigen Jahren die Kampagne „Herne mit Respekt“ ins Leben gerufen. Eine Kampagne, die seit 2019 zahlreiche Unterstützerinnen und Unterstützer gefunden und nicht an Aktualität verloren hat. Darauf können wir stolz sein.

Gemeinsam mit den zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützern bekennen wir uns in unserem alltäglichen Handeln zu den Leitsätzen der Kampagne, aufmerksam zu sein und uns gegen Gewalt, Ausgrenzung, Rassismus, Sexismus und Respektlosigkeit einzusetzen. Wir setzen uns also nicht nur für eine lebendige Erinnerungskultur ein, sondern wollen insbesondere durch neue Projekte (wie der Respekt-Akademie) diese Werte in der Stadtgesellschaft verankern. Damit das friedliche Zusammenleben in der Zukunft keine Illusion wird.

Meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,

lassen Sie uns daher die heutige Gedenkveranstaltung nutzen, gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen für „Herne mit Respekt“. Ein Zeichen für ein Zusammenleben ohne Ängste. Ein Zusammenleben, das gegenseitige Achtung, Integration, Vielfalt und Zusammenhalt in einer Stadt mit über 125 Nationen fördert.

Daher wiederhole ich abschließend meinen Appell: Lassen Sie sich nicht beirren, bleiben Sie antidemokratischen Umtrieben gegenüber wehrhaft. Tragen Sie mit Ihrer Haltung tagtäglich zu einem guten Miteinander bei. Wir kennen die Vergangenheit, und wir haben es in der Hand, dass Antisemitismus, Rassismus und Extremismus an vielen Stellen der Nährboden entzogen wird. Ein gutes Miteinander kommt uns allen zu Gute, wohingegen Diskriminierung und Ausgrenzung nur eines kann: schaden.

Danke für Ihr Engagement. Bleiben Sie demokratisch.

Der Brief von Esther Hocherman und Irit Matan im Wortlaut:

Ein paar Worte zum Shoah-Gedenktag am 27. Januar 2024 in Herne

Von Esther Hocherman & Irit Matan, Israel

Meine Mutter, Esther Hochermann, wurde 1931 als Edith Jankielewitz in Recklinghausen geboren. Sie und ihre Familie lebten in Herne. Noch heute erzählt sie Geschichten aus der Kaiser-Wilhelm-Straße (heute: Viktor-Reuter-Straße). Sie kam gerade zur Schule, als das Nazi-Regime jüdische Menschen in die Vernichtungslager deportierte, um es zu ermorden. Sie wurde allein gelassen. Ein siebenjähriges Kind in einer feindlichen Welt, das sich vor denen versteckte, die sie töten wollten. Warum? Nur weil sie Jüdin war.

Esther lebt, 92 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Familie in Israel.

Am frühen Morgen des 7. Oktober 2023, als wir schliefen, nachdem wir den letzten Tag des Sukkot-Festes gefeiert hatten, wurden wir von Tausenden von Hamas und anderen arabischen Menschen aus Gaza angegriffen, die uns, das jüdische Volk in Israel, vernichten wollten. Ich werde nicht beschreiben, was wir an diesem Tag und von diesem Tag an durchgemacht haben. Jeder in Israel hat einen Freund oder ein Familienmitglied, das getötet, verwundet oder entführt wurde. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir seit der Gründung Israels in der Gefahr sind, vernichtet und ins Meer geworfen zu werden.

Im Jahr 2010 sprach meine Mutter bei der Einweihung des Shoah-Denkmals in Herne. Sie forderte das deutsche Volk auf, dem Land Israel zu helfen, sich vor der iranischen Atombombe zu schützen. Sie sagte, dass sie für die Sicherheit Israels verantwortlich sein müssen.

Heute möchte ich die Worte meiner Mutter noch einmal hervorheben. Die Reaktion des deutschen Volkes auf die Ereignisse vom 7. Oktober hat uns klargemacht, dass Deutschland bereit ist, die Verantwortung für die Shoah zu übernehmen. Deutschland leugnet nicht den Antisemitismus, der immer noch das jüdische Volk und Israel bedroht, und ist uns zur Seite getreten. Auch die Menschen in Herne. Wir haben diese Nachricht erhalten. Danke dafür.