Steinzeit digital erleben
Dr. Michael Lagers stellt seinen Fuß neben den Abdruck einer doppelt so großen Pranke in die Kamera: „Könnt ihr euch vorstellen, zu welchem Tier diese Spuren gehören?“ Die Kinder äußern nacheinander einige Vermutungen, bevor ein paar riesige Reißzähne den Bildschirm ausfüllen. „Das ist unser Höhlenbär“, erklärt der Museumsmitarbeiter und sorgt damit für Erstaunen bei den jungen digitalen Besucherinnen und Besuchern. So nah kommen sie sonst nicht an die Ausstellungsstücke im Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Herne.
Foto: Digitale Führung auf dem Smartphone. ©LWL
Zehn Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse der LVR-Förderschule Helen-Keller für körperliche und motorische Entwicklung aus Essen verfolgen an einem Dienstag gemeinsam mit ihrem Lehrer direkt aus dem Klassenzimmer und von zuhause die digitale Expedition durch die Steinzeit. Pünktlich um 10:15 Uhr haben sie sich per Link in die Videoschaltung eingewählt und wurden von Sylvia Bachmann, Museumspädagogin im LWL-Archäologiemuseum am Bildschirm begrüßt: „Wir starten jetzt unsere Reise vor über 250.000 Jahren. Mein Kollege Michael ist heute als Außenreporter für euch unterwegs und wird einige Ausstellungsstücke genauer unter die Lupe nehmen.“ Der wissenschaftliche Referent des Museums kommt zur Begrüßung kurz ins Bild.
Starke Bilder, die neugierig machen
Als erstes lernen die Kinder von Bachmann die Bedeutung des Begriffs Steinzeit kennen. Während Lagers anhand eines Steins erklärt, wie die Neandertaler daraus Werkzeuge herstellten, rollt seine Kollegin mit dem Medienwagen, auf dem der Laptop platziert ist, zur nächsten Station. Die beste Position für die Kamera ist mit Klebestreifen auf dem Boden markiert. Offiziell ist das Museumsteam Ende November 2020 mit dem Angebot gestartet, die Vorbereitungen haben aber bereits Monate vorher begonnen. Es brauchte einige Übungen, bis die richtige technische Ausstattung und Darstellung gefunden waren. „Die Qualität ist uns sehr wichtig“, sagt Bachmann. „Wir möchten starke Bilder zeigen und die Menschen neugierig machen, damit sie uns nach Möglichkeit bald auch vor Ort besuchen.“
Die Auswahl an Objekten und die Gestaltung der Präsentation sind normalerweise auf größere Gruppen ausgelegt. Platzmangel ist bei der digitalen Führung aber kein Problem. Dadurch kann das Museumsteam nun auch Ausstellungsstücke zeigen, die sonst nur am Rande Beachtung finden. Ausgestattet mit der Kamera seines Smartphones kommt Lagers als Außenreporter in jeden Winkel des Museums. Seine Kollegin ist mit dem Medienwagen zwar an einen festen Weg gebunden, hat sich aber zusätzliches Anschauungsmaterial an den einzelnen Haltepunkten zurechtgelegt. So demonstriert sie mit einem großen Holzspeer, wie früher gejagt wurde oder zeigt den Schädelknochen eines Menschen, der vor 40.000 Jahren gelebt hat: „Nehmt einmal alle eure Hände an euren Kopf und fühlt, welche Form die Stirn hat. Fallen euch Unterschiede zur Form des Neandertaler-Schädels auf?“
Museum digital gedacht
Bachmann und Lagers binden die Kinder so oft wie möglich aktiv in die Führung ein. Ziel sei es immer, das Museum erlebbar zu machen, sagt Bachmann. „Das ist digital natürlich nicht immer möglich. Das Riechen etwa können wir nur assoziativ lösen. Aber das Haptische können wir teilweise durch die eigenen Hände der Besucher nach Hause transportieren.“ So kann zum Beispiel auch die eigene Kopfform zum spürbaren Anschauungsobjekt werden. Zudem seien die Kinder vor dem Bildschirm häufig fokussierter. „Sie haben weniger Ablenkung um sich herum und können das Gezeigte jederzeit gut sehen.“ Und das digitale Format biete mehr Möglichkeiten, zusätzliche Informationen wie Videos oder Karten einzubinden. Um zu zeigen, wie die Menschen früher Mehl gemahlen haben, hat das Museumsteam beispielweise einen kleinen Film erstellt. Die Abwechslung kommt nicht nur bei den Kindern gut an: „Wir versuchen, Museum neu zu denken und probieren immer noch viel Neues aus“, erzählt Lagers.
Um die Bedürfnisse der Besucherinnen und Besucher so gut wie möglich zu berücksichtigen, werden die Führungen per E-Mail oder Anruf persönlich mit dem Museumsteam vereinbart und das Thema gemeinsam angepasst. Auch der Preis ist nicht festgelegt. Nach dem Prinzip „Pay-what-you-want“ entscheiden die Gruppen nach dem digitalen Besuch selbst, wie viel Geld ihnen die Führung wert war. Seit Weihnachten bietet das LWL-Museum auch einen Gutschein an, der über die Webseite direkt heruntergeladen und ausgedruckt werden kann
Digitale Führungen erweitern das Museumserlebnis
Das Angebot soll es auch weiterhin geben: „Digitale Führungen sind nicht nur ein Krisenformat, sondern eine großartige Ergänzung. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder weiten Anfahrtswegen ist es eine wundervolle Möglichkeit, um an unseren Inhalten teilzuhaben“, sagt der wissenschaftliche Referent. Vor Kurzem hat das Team einen eigenen Medienwagen gebaut, der nicht nur den Umgang mit der Technik vereinfacht, sondern durch seine geringere Größe nun auch neue Bereiche des Museums für die digitalen Besucher zugänglich macht. Nach etwa einer Stunde ist die Führung für die Förderschulkinder vorbei. Die hochgestreckten Daumen am Bildschirm beweisen, dass das neue Format auch bei jungen Besucherinnen und Besuchern gut ankommt.