Das kleine theater herne feiert am 14.11.2018 20-jähriges Jubiläum

Übers Herrenklo direkt auf die Bühne

9. November 2018 | Kultur

  • Kult: Die ehemalige Kneipe als Kasse, Verkaufsthresen...©Thomas Schmidt, Stadt Herne
Der Theatersaal ist nicht größer als ein Wohnzimmer. Hinter den Kulissen haben die Schauspieler kaum Beinfreiheit: Stücke mit großem Ensemble sind nicht drin, denn in der Garderobe haben allenfalls sieben Personen Platz. Aber dann passt auch kein Blatt mehr dazwischen. Die Miniatur-Garderobe mit gelbem Vorhang ist Umkleideraum, Schminkstudio und Fundus in einem, davon zeugt unter anderem ein voller Spind mit Kleidungsstücken zu allen Theatergelegenheiten.

Der Weg durch das Nadelöhr

Für die Etablierten ist der Weg von der Garderobe zur Bühne Alltag, Gastschauspieler schmunzeln drüber: Zunächst geht es durch die Herrentoilette in einen Abstellraum und von dort in einen dunklen Innenhof – von den Schauspielern liebevoll Jürgen-Seifert-Platz genannt, wir kommen noch drauf zu sprechen – dann ein paar Stufen hoch, Tür geöffnet und rauf geht es auf die Bühne. Schauspieler, die von der anderen Seite die Bühne betreten, müssen sich durch das Nadelöhr einer Passage hinter der Bühne durchschieben. „Am Schluss der Vorstellung kommen wir manchmal nicht in die Garderobe, weil die Zuschauer schneller waren und die Toilette besetzen", sagt Gründungsmitglied und 2. Vorsitzende Heike Hebing. Dramatisch wird es, wenn während der Vorstellung das Klo dicht ist.

Große Bonbondichte

Das kleine theater lebt von seinen volksnahen Komödien – aber auch von seinem besonderen Flair. Alles auf engstem Raum und der Mix aus Wohnzimmer und Wirtshaus – hier war mal die Kneipe „Lohbeck" – machen das Mini-Schauspielhaus so sympathisch: Hinter der Eingangstür wacht ein(e) Ritter(rüstung). Deko-Objekte wie ein riesiger Globus und gepolsterte Ledersessel komplettieren die Ausstaffierung. Gerade sind Foyer/Kneipe mit Herbst-Deko ausgestattet worden: Putzige Igel stecken zwischen gelben Herbstblättern und Kunststoff-Pilzen. Und es ist ein süßes Theater: Auf jedem Tisch steht ein Glas voller verführerischer Bonbons.

Vieles wirkt familiär: Der Aufführungsraum mit seinen 50 Sesseln, die Einrichtung im Wartebereich, das Ensemble. Die Bühne ist bei unserem Besuch in einem blumigen rot und rosé gehalten, eingerichtet für „Lügen, Sex und Sahnetörtchen", ein Stück von Christian Weymayr über zickige Frauen, Freundschaft, Lüge und Verrat. Für die Fotosession nehmen die Theaterleute die Schwarz-weiß-Bilder von der Wand, die von vergangenen Zeiten erzählen.

Stücke in der Warteschlange

Pressekonferenz der Theaterleute zum 20-jährigen Jubiläum. Jürgen Seifert muss es noch in den Fingern jucken, denn erst gestern hat er den Schlusspunkt für sein sechstes Stück gesetzt: „Der Petersilienmörder – eine Kriminalkomödie". Aber erst im Herbst nächsten Jahres feiert das Stück Premiere. Das zeigt, wie weit im Voraus geplant wird. Zuvor steht noch ein Stück von Christian Weymayr in der Warteschlange, das im März uraufgeführt wird: „Heldin des Tages" heißt es. Protagonistin ist ein junges Mädchen. „Wir wollen uns dadurch auch neues Publikum erschließen", sagt Weymayr.

Der Gründungstag

Sie blättern in ihrem Zeitungsarchiv – ganz oben sind inherne-Beiträge einsortiert. Dann erzählen sie ihre Geschichte. Am 1.5.1996 begann alles in der Wohnung von Karlheinz Schulz in Gelsenkirchen, wo sich ein halbes Dutzend Theaterbegeisterte versammelte. Von Anfang an dabei war auch der damalige Journalist und heutige Landtagsabgeordnete Thomas Nückel.

„Wir hatten uns vorgenommen, uns in fünf Jahren zu etablieren", sagt Heike Hebing. Im Rückblick besehen: Es ist geschafft. Am Anfang probten sie im Wohnzimmer und führten an externen Orten auf. Eine kurze Zeitspanne planten sie, sich an der Dornstraße niederzulassen. Das Logo mit der Haube erinnert noch heute an die damalige Dachkonstruktion des anvisierten Gebäudes.

20 Jahre Neustraße

Karlheinz Schulz, heute Ehrenvorsitzender, erinnert sich noch, wie dann alles anders wurde: „Uns hat der Vermieter der Kneipe ‚Lohbeck‘ angesprochen. Wir schlugen zu. Anfangs spielten wir auf der flachen Erde, weil es keinen Bühnenaufbau gab."

Am 14.11.98 – also vor gut 20 Jahren - war Eröffnung mit einem Loriot-Abend. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, wurde noch bis kurz vor Schluss gewerkelt: „Noch eine Stunde vorher haben wir den Teppich verklebt", weiß Schulz.

Solche und andere Karrieren

Schon mit zehn Jahren hat sich Heike Hebing für Theater begeistert und war auch an dem legendären Gründungsabend präsent. Gudrun Rosenke ist viel später und eigentlich durch einen Zufall dazu gestoßen. Sie begleitete ihren Sohn beim Casting und fragte scherzhaft: „Haben Sie auch was für ältere Damen?" Hatten sie. Andere Casting-Kandidaten hatten das Nachsehen. Ein Mädchen konnte hervorragend Frau Antje, die TV-Käseverkäuferin, imitieren. Das allein reichte aber nicht für ein Engagement. Mareike Hujo schnupperte auch mal in der Neustraße hinein, Karriere machte sie dann nicht im kleinen Theater, sondern auf der Opernbühne und als Protagonistin des „perfekten Dinners".

Der Jürgen-Seifert-Platz

2002 feierte Jürgen Seifert seinen Einstand mit Loriots „Kosakenzipfel". Seine darstellerischen Sporen hatte er sich beim Sodinger Karneval als Jürgen vonne Kantstraße verdient. Seifert avancierte zum big old man des kleinen theaters, für den der Hinterhof zum „Jürgen-Seifert-Platz" unbenannt wurde. „Ich bin vom Theatervirus infiziert", sagt Seifert, „das ist eine Krankheit, die man nicht heilen kann." Eigentlich macht er alles. Der rüstige Rentner schreibt auch Stücke. Sein Erstling „Rabatz im Altenheim" wurde 128-mal aufgeführt – war also ein unvergleichlicher Erfolg. Dabei war es nicht die literarische Berufung, die ihn zum Schreiben führte. Nein, es war viel profaner. „Ich habe mitbekommen, wieviel Geld wir für Tantiemen ausgeben." So spart das kleine theater, indem die Mitglieder selbst schreiben. Gleiches gilt für die Musik. Bei der Nutzung bekannter Songs würden bei 700 Euro Einnahmen 250 Euro an Gema-Gebühren anfallen. Durch die Lautsprecher klingen daher selbst komponierte Lieder.

Von den Einnahmen müssen Miete, Strom, Telefon, Gas, Technik bezahlt werden. Die Schauspieler bekommen kein Geld, die einzige Gage ist der Applaus. Andererseits wird viel Leistung abverlangt: Dreimal in der Woche Proben, Text auswendig lernen, kaum ein Wochenende frei. „Manche kommen mit der Vorstellung: Ich gehe zum Theater und werde ein Star. Doch wenn sie sehen, wieviel Arbeit das ist, geben sie auf", sagt Schulz.

Publikum liebt Improvisation

Rund 20 Schauspieler zählen zum Ensemble, der Theaterverein hat 40 Mitglieder. Im Durchschnitt werden im Jahr zwei Premieren gefeiert. Manchmal kaufen Vereine oder größere Gruppen die komplette Vorstellung. Aufführungen fallen so gut wie gar nicht aus. Wenn jemand erkrankt, wird für Abhilfe gesorgt: Da springt der Regisseur ein und wird zum Zimmermädchen, weil er nun mal den Text am besten kennt. Und sonst wird dann eben improvisiert. Das Publikum liebt so was.

Bekannte Comedians nutzen die Bühne gerne, um ihr neues Programm vor dem kleinen Publikum zu testen: Bernhard Hoecker kam häufiger, auch Carsten Höfer, Isabel Varell, der unglaubliche Heinz oder Ausbilder Schmidt.

„Dramen haben sich nicht durchsetzen können", erklärt Hebing, „eher leichte Stoffe". Waymayr hat „seicht" verstanden und protestiert: „Ich finde nicht, dass wir seichte Unterhaltung bieten." Das sehen sie alle so. Aber sie müssen spielen, was der Markt verlangt. „Wir hatten Jahre, da waren wir ständig ausverkauft", sagt Heike Hebing. „Das ist heute nich mehr so. Wir haben den Eindruck, die Leute gehen nicht mehr so gerne aus dem Haus."

Breit aufstellen

Deshalb sollen neue Zielgruppen gewonnen werden. „Wir wollen uns breit aufstellen", heißt die Losung. Zum Beispiel durch Poetry Slam-Auftritte. Jugendtheater will Debbie Schwittay auf die Beine stellen, eine Art Theaterclub für junge Leute, die selber Stücke entwickeln sollen. Dennoch gilt vor allem eines, von den Gründungsvätern und –müttern unterstrichen: „Das Stammpublikum dürfen wir nicht vergrätzen."

Horst Martens