„Ungenehmigte Malerei“ im Alten Wartesaal
Im Alten Wartesaal des Herner Bahnhofs standen zwei Ereignisse im Mittelpunkt: Die Eröffnung – dieser Part stand Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda zu. Und die Vernissage: Künstler und Kuratoren waren hier gefragt.
Text: Horst Martens / Fotos: Frank Dieper
Eine Art Avantgarde
Als sich die Gäste die Street-Art-Ausstellung „Aber du siehst mich nicht“ ansahen, spiegelte sich in ihren Gesichter Neugierde oder Ratlosigkeit oder große Begeisterung für das Niezuvorgesehene. Obwohl der künstlerische Leiter Robert Kaltenhäuser unterstrich, dass die Arbeiten sich von selbst erschließen und kleine Texte dazu vorbereitet seien. Viele mögen auf abstrakte Kunst vor 100 Jahren ähnlich reagiert haben. Zumal die Ironie der Ausstellung auch darin besteht, dass „ungenehmigten Malerei“ präsentiert wurde. So bezeichnen Street-Artisten ihre im Geheimen entstanden Werke. Weil viele tatsächlich illegal auf Waggons und Immobilienfassaden gesprayt und gepinselt werden. Das hat was: In einer Immobilie der Bahn werden Bilder ausgestellt, die zum Teil gegen den ausdrücklichen Willen der Bahn entstanden. Nachvollziehbar, weshalb die Künstler sich auf der Vernissage nicht vorstellten, obwohl sie anwesend waren. Und so ist auch der Titel zu verstehen.
Tanzperformance mit Burger
Ein Dutzend junge Männer in weißen Kapuzenjacken präsentierten eine Tanzperformance im großen Wartesaal, sie spielten Verfolgungsszenen, bildeten Quadrate, Rechtecke oder Kreise. Höhepunkt der Vorführung: Eine Fünfergruppe kam aus dem Burgerladen. Einer, getragen von den anderen, verspeiste einen Burger. Es handelte sich um die „Jungen Choregraphen“ der Folkwang-Schule.
Der Wartesaal und großstädtische urbane Kultur
Im Wartesaal dann bezeichnete Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda den Ort dann als „Kleinod“ und stellte fest, dass sich im und um den Bahnhof herum „Ungewöhnliches“ tue. Vom Coolibri sei er gefragt worden, warum er Oberbürgermeister geworden sei. „Weil man in Herne viele Spatenstiche machen kann und viel eröffnen kann“, lautete die Antwort. Vorige Woche Eröffnung des Heimatmuseums, heute der Wartesaal, gestern der Spatenstich für ein privates Bauprojekt am Bahnhofsplatz, das „großstädtische urbane Kultur“ verkörpern werde. Und dann stehe demnächst noch die Modernisierung des Herner Bahnhofs für 6,4 Millionen Euro aus.
Zekai Fenerci hielt sich in seiner Rede kurz und dankte vor allem dem Fachbereich Kultur und seinem Leiter, Peter Weber, und der Kultur-Projektleiterin Bärbel König-Bargel. Fenerci ist ein kämpferischer Typ, der dicke Bretter bohrt. Seit bald 20 Jahren setzt er sich für urbane Kunst ein. Seine Zähigkeit und Ausdauer haben sich ausgezahlt – nicht nur im Alten Wartesaal. Von Bärbel König-Bargel hörte man zum Schluss einen lauten Schrei – ihr war gerade ein Stein vom Herzen gefallen, weil nach so viel Mühen doch alles glatt gelaufen war.
Straßenkultur ist Hochkultur
Robert Kaltenhäuser feierte das „Zusammenfinden der Straßenkultur und der Hochkultur.“ „Wir suchen nicht das Entweder Oder, auch nicht eine Mischung, sondern das, wo die Verbindung gelingt“, fügte Kaltenhäuser hinzu. „Ich gebe den Tipp ab, dass das, was wir hier sehen, eine gute Chance hat, Museumskunst zu werden.“
Aris – fantastische Gebilde
Aris, der Künstler aus der Toskana, zeigt in Herne unter anderem einen großwandigen Scherenschnitt, der an chinesische Kunst erinnert. Schon früh in seiner Karriere verzichtete Aris auf den Namensschriftzug, mit dem sich sonst Streetkünstler verewigen. „Sorgfältig lackiert Aris seine oft einfarbigen, scharf begrenzten Gewebe auf die rostigen, glänzenden oder matten Metallflächen von Waggonwänden oder Industrieflächen, wo sie sich als fantastische Gebilde entfalten“, heißt es im Pressetext.
Tocka – mit Farbe und Pinsel
Tocka (gesprochen „Toska“) ist das russische Wort für „Sehnsucht“. In seinen Arbeiten, zu finden zumeist auf Industrieflächen, dominiert die Linie, die sich zu Gittern, Rastern und Strukturen zusammensetzt. Manche Werke bestehen aus Schrift auf Zeilen. („Die Tage sind grau / Die Nächte finster und lang / Ich steige in mein Auto und fahre durch die Stadt / Weiss und rot / Ich schließe die Augen“). „Die Arbeit mit Farbe und Pinsel finde ich viel intensiver als mit Sprühfarbe“, sagt er. Hier zeigt sich, wie weit er vom konventionellen Graffiti entfernt ist.
Die Spuren, die diese Künstler hinterlassen, dokumentiert Ann-Katrin Pauly. Während der Ausstellung realisiert sie ihr Filmprojekt „Unorte und Umwege“, das einen Blick auf die sonst eher unsichtbaren Künstler wirft.
Rückblick von OB Dudda
Einen Blick zurück warf Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda. Wir folgen seinen Ausführungen:
1847 wurde von der Köln-Mindener Eisenbahn in Herne ein Bahnhof gebaut, er wurde bereits 1911 wieder abgerissen. 1914 wurde neu gebaut mit Wartesälen für die 1., 2. und 3. Klasse. Der Alte Wartesaal war für die 3. Klasse gedacht, der McDonalds-Raum für die 2. Klasse.
1970 wurde „modernisiert“ - die schöne Kuppel der Eingangshalle verschwand hinter einer abgehängten Deckenkonstruktion, Fenster wurden ausgebaut, Fensteröffnungen zugemauert und Wände rosa angestrichen.
In den 90er Jahre erfolgte im Rahmen vom IBA-Emscherpark eine denkmalgerechte Restaurierung. Mit dem 2004 errichteten Glasdach über dem Zentralen Omnibusbahnhof wurde das Umfeld modernisiert.
2003 waren die Macher des RoomService (Chris Wawrzyniak und Patrick Praschma) auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Veranstaltungsraum für ihre Club-Lounge. Durch Zufall auf den alten Wartesaal. Der vergessene und verlassene Raum wurde für kurze Zeit zur Location.
2008 belebte Pottporus den Raum mit der ersten Street-Art-Ausstellung Infusion I im Rahmen des Pottporus-Festivals. Sieben weitere folgten. Der Umbau des Alten Wartesaals wurde zu einem Ausstellungs- und vielleicht auch Veranstaltungsraums wurde zum Bestandteil des städtebaulichen Entwicklungskonzeptes für Herne-Mitte, das vom Rat 2015 beschlossen wurde. Die Umgestaltung kostete rund 220.000 Euro.
An der Umgestaltung waren beteiligt: das Stadtumbaubüro, das Gebäudemanagement, das Kulturbüro. Künftig wird das Emschertal-Museum hier federführend die Regie übernehmen. „Die beeindruckende Kulisse dieses Raumes mit seiner denkmalgeschützten Decke sollen neben Pottporus auch viele andere junge Künstlerinnen und Künstler nutzen, um ihre Werke zu präsentieren“, so der OB.
Noch bis Juli wird die Ausstellung „Aber du siehst mich nicht“ gezeigt. Im November eröffnet „Infusion 9“.