80. Jahrestag zur Pogromnacht

Warnung vor subtilem Antisemitismus

9. November 2018 | Gesellschaft

In den vergangenen Jahren hatten der Oberbürgermeister jeweils einen Kranz an der Langekampstraße, dem Standort der ehemaligen Wanner Synagoge, niedergelegt. Anlässlich des runden Jahrestage entschied sich die Stadt für eine umfangreichere Veranstaltung in der Schul-Aula in Crange - mit dem Vorteil, dass zahlreiche Schüler an der Gedenkstunde teilnehmen konnten. Gleichzeitig hatten Mädchen und Jungen der Schule zum Thema eine Ausstellung zusammen gestellt, die im Foyer zu besichtigen war. Der große Saal war beinahe komplett besetzt, unter den Gästen waren auch Mitglieder der jüdischen Gemeinde.

  • Eindrücke zur Gedenkveranstaltung in der Aula der Realschule Crange. ©Thomas Schmidt, Stadt Herne

"Wir müssen noch aktiver werden"

Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda erinnerte daran, dass die Pogromnacht kein weit entferntes Ereignis war: "Hier in Herne und Wanne Eickel wurden 400 jüdische Bürger ermordet. Wir blicken mit Schrecken auf die verwerflichen Verbrechen zurück." Gleichzeitig schlug er den Bogen zur Aktualität: "Wir müssen leider sehen, dass es rechtspopulistische Parteien gibt, die versuchen, die Geschichte zu verharmlosen." Der Oberbürgermeister warnte davor, nazistische Äußerungen unwidersprochen zu lassen. "Jüdische Synagogen, die durch Polizeikräfte gesichert werden, das kann nicht als Normalfall angesehen werden. Wir müssen noch aktiver vorgehen. Einfach darüber hinwegsehen, das geht nicht, dafür sind die Zeiten zu robust."  Auch die Tätigkeiten im Netz sprach er an: "Bei antisemitischen Sprüchen und Hetze in den sozialen Medien müssen wir noch aktiver vorgehen. Es kann nicht angehen, dass unsere jüdischen Menschen sich nicht mehr sicher fühlen."

Die Veranstaltung wurde umrahmt von musikalischen Beiträgen der Gesamtschule Wanne-Eickel, dargeboten von Nicole Van Loo (Klavier), Julia Seiz (Synthesizer), Gregor Beckemeier (Querflöte), Gülsümnur Aksyoy (Gesang), Matthias Hein (Bassgitarre), Emre Can Zengin (Schlagzeug).

Hetze in sozialen Medien

Juliane Weitzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung legte dar, dass Staat und Zivilgesellschaft zwar ein großes Engagement gegen Antisemitismus zeigen, aber trotz dieser Fortschritte sich kaum was am Phänomen Antisemitismus geändert habe. Nach wie vor stehen jüdische Einrichtungen unter dauerhafter Polizeipräsenz. Als Beispiel nannte sie den jüdischen Kindergarten in Berlin, der einem Hochsicherheitstrakt gleiche. Jahrestage nutzen rechte Kräfte, um die Emotionen zu schüren. So sei es 2015 bei einer Pegida-Demonstration in Dresden unter Applaus des Publikums diese Erklärung vorgetragen worden: "Wir erklären den Schuldkomplex für beendet." In den Schulen seien Schulleiter lange Zeit zu defensiv mit dem Phänomen "Antisemitismus" umgegangen. In den sozialen Medien sei die Verbreitung antisemitischer Vorurteile kein Tabubruch mehr. Die Nutzer verfügten häufig nicht über die Kompetenz, die Posts richtig einzuordnen.

  • Zerstörte Synagoge in Herne. ©Bildarchiv der Stadt Herne

Gewalttaten steigen nicht linear

Denoch müsse festgestellt werden: Die antisemitischen Gewalttaten steigen nicht linear - 2006 waren 1800 Straftaten zu verzeichnen, aktuell etwa 1.300 bis 1.400. Der Anstieg von Straftaten hänge häufig mit Geschehnissen in Nahost zusammen: Intifada, Gaza-Krieg, etc. "In den Jahren 2016/17 stieg die Anzahl der Taten allerdings ohne Trigger-Ereignnisse an." 90 Prozent der Straftaten werden im rechtsradikalen Milieu verübt, allerdings ist Antisemitismus auch in linken Kreisen zu finden. Häufig sei die Kritik am Verhalten des Staates Israel mit Antisemitismus verbunden. Schon der Begriff "Israel-Kritik" sei problematisch, weil es diesen Begriff in Zusammenhang mit anderen Nationen nicht gibt. Schon mal was von Deutschland-Kritik gehört?

Die Projektion des Antisemitismus auf Muslime diene zumeist der Ablenkung von der eigenen Verantwortung. Bislang gebe es nur rudimentäre Studien über die Einstellungen, die eher Russlanddeutsche als antisemitisch einstuften. "Aber solange wir nicht eindeutige Daten haben, sollten wir uns zurückhalten", so Weitzel. Zum Schluss: "Zu viele sehen im Antisemitismus immer noch den rassistisch, nationalsozialistisch geprägten Judenhass, der zum Holocaust geführt hat, aber nicht die viel subtileren Formen. Deshalb sollten wir sensibler werden, wenn es um die Debatten zum Nahostkonflikt geht und die Alarmglocken schrillen lassen."

Horst Martens