„Weg vom Fenster“ – gelungene Premiere
Im Literaturhaus Herne-Ruhr, bis auf den letzten Platz gefüllt, feierte das Bergmannsstück "Weg vom Fenster" unter der Regie von Ralf Piorr eine gelungene Premiere. Der Schauspieler Till Beckmann las aus dem Typoskript eines unbekannten Bergmanns und glänzte mit schauspielerischen Qualitäten, während der Musiker Christian Donovan jeweils inhaltlich passend irisch-schottische Songs aus dem Bergmannsmilieu präsentierte. Das Publikum war bis zum Schlusssatz gefesselt und dankte mit Standing Ovations.
Zum Verständnis: Der Historiker Ralf Piorr hat im Stadtarchiv Herne eine Schrift entdeckt, die keinem Autor zugeordnet konnte. Darin wird in eindrucksvoller Art das Bergmannsleben in Herne zwischen 1933 und 1966 geschildert. Piorr ließ den Text unter dem Titel "Die Männer von Luise" veröffentlichen. Jetzt produzierte er daraus eine szenische Lesung unter dem Titel "Weg vom Fenster", die im Literaturhaus Premiere feierte. Siehe dazu auch Hartes Bergmannsleben auf der Bühne.
Till Beckmann hatte noch bei der vorangegangenen Pressekonferenz betont, dass er sich als Person zurücknehmen und seine Darbietung ganz in den Dienst des Textes stellen würde. Von Understatement konnte jedoch keine Rede sein: Beckmann traf haarscharf den Ton und schien sich jeweils in die Körpersprache und in den Ausdruck der Person zu verwandeln, dessen Perspektive geschildert wurde: In die des Protagonisten Holler, der "pfeifend wie ein poröser Blasebalg" die Treppen hochgeht, weil er an Silikose leidet. Der mit ansehen muss, wie sein Kollege Urbanski von einem Stein erschlagen wird ("Den Anton hat's erwischt."). In Hollers Frau Gertrud, die sich leise betend an die Heilige Barbara wendet, weil sie jeden Tag befürchten muss, dass es vielleicht "die letzte Fahrt" ihres Mann sein wird. Oder in den Kumpel Kwasny, der vor dem Haus Hollers sitzt und das langsame Sterben seines Freundes indirekt beobachtet: Der Zechenarzt verlässt das Haus, der Pastor betritt es, um wahrscheinlich dem Sterbenden die letzte Ölung zu verabreichen. Der Autor des Textes nutzt eine bildreiche Sprache ("Der Tod hatte begonnen, mit offenen Karten zu spielen."), wobei er dabei nicht den Fehler begeht, und in das Tegtmeiersche Wat-und-Dat-Dialekt fällt. Eine große expressive Wirkungen haben auch die großformatig an die Wand geworfenen düsteren Schwarz-Weiß-Illustrationen von Ana-Lina Mattar.
Beckmann schnauft, stöhnt, stampft mit den Füßen - und animiert nach einer musikalischen Darbietung das Publikum zum Applaus für Christian Donovon. Belacht wurde auch der mehrmals wiederholte Hitlergruß-Slapstick, bei dem der Schauspieler wie vom Blitz gefällt zu Boden ging. Und zuletzt löste er das Publikum aus seiner aufmerksam-starren Haltung, indem er es zum Mitsingen des Liedes "Freut euch des Lebens, solang noch ein Lämpchen glüht" bewegte. Diese Wette hat Ralf Piorr verloren - er war von der Sangesfreude der Besucher nicht überzeugt. Das Publikum war angetan - von der Darstellung, aber natürlich auch, weil es Stoff aus dem eigenen Leben war. Wahrscheinlich war niemand ohne Bergbaubezug im Literaturhaus. Ralf Piorr hatte durch vorherige Projekte erfahren, "welche Kraft in der Erinnerung steckt" und wollte "diese Stimmung erneuern". Dabei kam es ihm vor allem auf ein nüchtern-sachlichen Rückblick an und um das Vermeiden von Klischees und einer Nostalgie, die auf falschen Gefühlen beruht. - Die Menschen werden entscheiden, in welcher Form sie sich erinnern wollen.
Horst Martens