inszene

Andy Strauß gegen Goethe

14. März 2014 | Gesellschaft Kultur

Jambus, Trochäus, Binnenreim und Sonnett verursachen bei Jugendlichen nur ein Gähnen. Viele finden die Lektüre aus dem Deutschunterricht todlangweilig. Gerade deswegen boomt das Prinzip „Poetry Slam“ in Deutschland, vor allem auch im Ruhrgebiet. Viele Impulse kommen aus Herne.

Siehe auch „Herne legt die Regeln lockerer aus“

Herner Agentur ist Organisator

„Vater“Ende Januar lief in den Flottmannhallen der U20-RuhrPokal-Slam, bei dem sich drei Herner Jugendliche für das Ruhrgebietsfinale im Schauspielhaus Bochum qualifizieren konnten. Organisiert wurde das Ganze von WortLautRuhr aus Herne – Grund genug für inszene, sich mit dem Phänomen „Poetry Slam“ mal genauer zu beschäftigen.

Ein Poetry Slam (Englisch für „Dichterschlacht“) ist ein Wettbewerb, bei dem selbstverfasste Texte dem Publikum präsentiert werden. Bis auf ein Zeitlimit von gewöhnlich fünf bis sieben Minuten gibt es keine Regeln zu Textgestaltung und Vortragsart. Das Besondere: das Publikum bewertet den Text. Entweder durch mehr oder weniger lauten Applaus oder Punktetafeln, die zu Beginn unter den Zuschauern verteilt werden.

Bei einer solchen Veranstaltung weiß man nie, was man geboten bekommt. Ob Liebesgedicht, Schimpftirade auf die Deutsche Bahn, Gesellschaftskritik oder abgedrehte Kriminalgeschichten. Alles ist möglich und kommt demnach auch irgendwann vor. Das macht Poetry Slam so spannend und erfolgreich. Aber ist das schon alles? Ich treffe mich mit Chris Wawrzyniak, um mehr zu erfahren.

Chris Wawrzyniak, © Sascha Rutzen Chris Wawrzyniak, © Sascha Dominic Rutzen

„Sprechreiz“ ist Teil der ersten Slam-Generation

Der „Sprechreiz“-Slam, veranstaltet vom Roomservice der Flottmannhallen, war von Anfang an dabei: „Wir gehören zur ersten Generation der Slams, die hier im Ruhrgebiet aufkamen“, weiß Chris stolz zu erzählen. „Bereits 2006 ging es los damit, was ja auch schon unglaubliche acht Jahre her ist.“ Wie die Idee dazu kam, weiß Chris aber noch ganz genau. Beim Internationalen Jonglierfestival 2006 im Gysenbergpark wurde Sebastian23 (der eigentlich Sebastian Rabsahl heißt) als Bühnen-Poet eingeladen. „Der Gedanke war, das Beiprogramm mit was anderem zu gestalten – quasi Jonglage mit Worten!“, scherzt Chris. Als Sebastian dann auf die Bühne trat, die Stirn ans Mikrofon legte und zum Publikum sagte „Könnt ihr meine Gedanken hören?“, war Chris mehr als skeptisch. „Dann aber hat der quasi innerhalb von 30 Sekunden den ganzen Laden auseinandergenommen. Die Leute sind völlig ausgeflippt – Sebastian hat ja auch eine unglaubliche Bühnenpräsenz!“, berichtet er.

Danach war klar: Da muss es eine Zusammenarbeit geben. Aus dieser ersten Begegnung heraus entstand neben anderen Veranstaltungen dann auch der „Sprechreiz“-Slam, seit Beginn moderiert von Sebastian.

Im Backstage gibt es keine Allüren

Nach so vielen Jahren kennt Chris die Slam-Szene gut. Und er schätzt sie sehr. Zum Beispiel den Umgang untereinander: „Ich finde, dass das eine extrem ungezwungene Szene ohne Berührungsängste und ohne Allüren ist.“ Es ist ganz egal, ob jemand zum hundertsten oder zum ersten Mal auf der Bühne steht. Man schätzt und respektiert sich. Im Backstage ist der Umgang persönlich. „Die verbindet, was sie machen“, erklärt Chris, „und ich mag, was die machen und wofür die leben – für den Text, für das gesprochene Wort.“ Und weiter: „Das unterscheidet das Ganze für mich auch von Comedy. Es geht nie nur um den vordergründigen Lacher – es gibt immer auch eine Aussage. Denn auch nach dem 500. Slam hast du jedes Mal einen Moment, wo du dir denkst 'unglaublich'!“

WortLautRuhr reicht bis in die Schulen

2012, sechs Jahre nach dem ersten „Sprechreiz“ in Herne, gründen die beiden Slam-Spezialisten Chris und Sebastian schließlich 'WortLautRuhr': die mittlerweile größte Poetry-Slam-Agentur in NRW, und bringen so alles unter einen Hut: Sie organisieren Slams, vermitteln die dazugehörigen Poeten und Moderatoren für Veranstaltungen und bieten Workshops an. Auch in den Schulen ist WortLautRuhr aktiv – als Begleitung zum Unterricht oder als Lehrerfortbildung. Denn der Bühnenpoesie ist der Sprung in die Klassenzimmer gelungen. Es entwickelt sich ein Markt rund um den Slam. Und die Nachfrage steigt, einige Slam-Poeten können sogar von ihrer Wortkunst leben (siehe Interview mit Sebastian23). Es gibt aktuell 1.245 Suchergebnisse zu „Poetry Slam“ beim Internet-Versandhändler Amazon. Auf Platz eins: Ein Arbeitsbuch für den Unterricht der 7. Klasse. Sogar der Traditionsverlag Reclam hat ein Textbuch für die Oberstufe im Sortiment.

Wort Laut Ruhr Logo, © Sascha Dominic Rutzen Wort Laut Ruhr Logo, © Sascha Dominic Rutzen

„Der Zauberlehrling“ versus „Es regnet Ponys“

Neben dem Rezitieren und Analysieren von Theodor Fontane („Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“) und Johann Wolfgang von Goethe („Der Zauberlehrling“) besteht scheinbar Interesse an neuartigem Umgang mit Literatur, vorgeführt von Bühnen-Poeten wie Andy Strauß („Home is, where mein Fisch ist“) und Wolf Hogekamp („Es regnet Ponys“). Die Klasse wird zum Publikum, der Schüler zum Pult-Poeten. Es spricht nichts gegen die Auseinandersetzung mit Klassikern im Unterricht – aber durch Poetry Slam wird ein dynamischeres, lebendigeres Bild von Sprache und Literatur vermittelt. Schüler werden vermehrt dazu motiviert, selbst kreativ zu sein. Und wer an dieser Stelle einwenden will, dass man Goethe nicht mit jemandem wie Andy Strauß vergleichen kann: Man kann es doch! Denn beim „Dead or Alive“-Slam (zum Beispiel am 29. Mai im Bochumer Schauspielhaus) treten quicklebendige Slammer gegen tote Literaturgrößen an, verkörpert von Schauspielern. Auch hier entscheidet das Publikum, wer gewinnt.

Größtes Jugend-Poetry-Slam-Projekt im Ruhrgebiet

WortLautRuhr hat in diesem Jahr erstmals den RuhrPokal veranstaltet – die Ruhrgebietsmeisterschaft im Slam für alle unter zwanzig mit Veranstaltungen in fünf verschiedenen Städten. Gefördert und dadurch erst möglich gemacht wurde das Projekt von der Herner Sparkasse, in deren Räumlichkeiten auch einer der U20-Workshops stattfand.

Unter den Teilnehmern war auch Gerrit Dirks. Der Neunzehnjährige kommt zwar aus Oer-Erkenschwick, aber als er vom Slam und dem Workshop in Herne Wind bekam, meldete er sich sofort dafür an. Ihm hat der Workshop geholfen, seine Schreibblockade zu lösen und eine neue Sicht auf sein eigenes Schreiben zu gewinnen: „Stilmittel werden auf einmal ... greifbar. Alles wird flüssiger!“, beschreibt er den spielerischen Umgang mit Texten, der im Workshop vermittelt wird. „Das sind einfache Mittel, die den kreativen Prozess einleiten.“ Es scheint geholfen zu haben: Sein gesellschaftskritischer Text „Die Pflicht ist eine Hure" kam gut an, beim RuhrPokal-U20-Slam wurde er Zweiter.

Nervosität beim Auftritt als i-Tüpfelchen

Gerrit schreibt zwar schon länger Gedichte und Kurzgeschichten, hat auch schon bei Ausstellungseröffnungen kleine Lesungen gehalten – der Auftritt in Herne war aber seine Slam-Premiere. Ob er nervös war? „Ja, aber das find' ich geil. Das ist, was die Bühne ausmacht. Ich bin vielleicht auch irgendwie 'ne Rampensau!“, gibt er zu. „Auf jeden Fall habe ich jetzt Blut geleckt.“ Gerrit wird weitermachen. Und er hofft, dass Jugendliche, die ansonsten wenig mit Literatur zu tun haben, vielleicht bei einem Slam-Besuch verstehen, wie Literaturempfinden sich mit der Zeit auch ändern kann und selbst aktiv werden. Denn, so Gerrit: „Was in den Köpfen vorgeht, ist tatsächlich das, was die Menschen ausmacht.“

Ebenfalls beim Workshop dabei war die 15-jährige Helena Wawrzyniak (die nicht mit Chris verwandt ist). Ich schaue in einer ihrer Freistunden am Otto-Hahn-Gymnasium vorbei. Auch sie hat der Workshop weitergebracht - insbesondere das Bühnen-Training mit Sebastian23, wo es um die Präsentation ging: „Wir haben geschaut, was man mit Gestik und Mimik machen kann, mit Sprachdynamik“, berichtet Helena. „Da waren einige Übungen bei, die mir sehr geholfen haben!“ Sie hat den ersten Platz belegt und war somit unter den drei Jugendlichen, die am 26. Januar im Schauspielhaus Bochum um den Titel des Ruhrgebietsmeisters antreten durften.

Helena Wawrzyniak, © Sascha Rutzen Helena Wawrzyniak, © Sascha Dominic Rutzen

Viele wollen schreiben – aber wissen nicht wie

Poetry Slam ist vielen in ihrem Alter aber noch ganz neu, „und den meisten muss ich noch erklären, was das ist“ erzählt die 15-Jährige. Sie will Poetry Slam auch zu sich in die Schule holen und hofft, einen Workshop realisieren zu können: „Ich glaube, es können unglaublich viele schreiben und haben Bock dazu. Aber sie wissen einfach nicht, wie.“

Beim Slam in den Flottmannhallen hat Helena schnell Kontakt zu anderen Poeten aufgebaut: „Ich war sofort dabei!“, sagt sie. Man versteht sich als Gemeinschaft. Der zentrale Gedanke hinter Poetry Slam ist eben nicht, trophäenüberhäuft nach Hause zu fahren, sondern seine eigenen Gedanken möglichst wirkungsvoll zu präsentieren. Sich Gehör zu verschaffen. Einfach mal ans Mikro treten und fünf Minuten lang eine Geschichte zu erzählen. Im Grunde geht's nur darum.

Probiert's doch mal aus!

Text und Artikelfotos: Sascha Dominic Rutzen