Serie: "Ein Tag in ..."

Aufenthalt mit open end

20. Oktober 2014 | Gesellschaft

Um 6:30 Uhr erwartet mich Krankenpfleger Mario Schröer an der rund um die Uhr besetzten Pfortenanlage der Maßregelvollzugsklinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Zuvor muss ich meine Utensilien in ein Schließfach einsperren und den Personalausweis beim Pförtner abgeben. Die Kamera und Schreibunterlagen darf ich mitnehmen, ausnahmsweise. Strenge Sicherheitsvorkehrungen sind hier Voraussetzung. Eine fünfeinhalb Meter hohe Mauer umgibt die Anlage. Videokameras überwachen das Gelände.

Alles ruhig, alles in Ordnung

Schröer führt mich in „seine" Station, deren stellvertretender Leiter er ist. In der Stationszentrale sitzen noch die beiden Krankenpfleger, die Nachtschicht hatten. Auf drei Monitoren läuft die Videoüberwachung aller Flure und Ecken. Einer der beiden war nachts aktiv, hat unter anderem zwei Rundgänge gemacht, der andere blieb im „Bereitschaftsmodus". „Alles ruhig, alles in Ordnung", sagen die Nachtschichtler bei der Dienstübergabe.

Klarer Tagesablauf

Forensik-11-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Für die Patienten ist jetzt Zeit, aufzustehen. Mario Schröer schließt auf. © Stadt Herne, Horst Martens

Für die Patienten ist jetzt Zeit aufzustehen. Einfach so den Tag verpennen, das geht nicht. Von 22 bis 7 Uhr ist Zimmereinschluss, dann beginnen die täglichen Therapie-Einheiten und Alltagsroutinen für die Patienten. Einer der Mitarbeiter teilt mit, dass einige Patienten darum bitten, heute Abend im Aufenthaltsraum das Fußballländerspiel anzusehen, das fast bis Mitternacht läuft. Aber Schröer ist unerbittlich: Fußball schauen können sie auch zu zweit in ihren Zimmern. „Wir wollen den Patienten vermitteln, sich an Absprachen zu halten und eine Tagesstruktur einzuhalten", erläutert er seine strenge Haltung. Ein klar strukturierter Tag und sinnvolle Beschäftigung verhinderten, dass Patienten in alte Muster verfallen, die ihre Erkrankung begünstigen . zum Beispiel den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tage machen.

Die Tagesstruktur einhalten war schon in der Psychiatrischen (Ein Tag im Kuckucksnest) wichtig, die ich vor einem Vierteljahr für die inherne-Reihe besucht habe, übrigens nicht die einzige Parallele zur Forensik. Und in der Tat: Abgesehen von den überall präsenten Sicherheitsvorkehrungen unterscheidet sich die Behandlung von Patienten in der Forensik nicht grundsätzlich von einer Behandlung von psychisch Kranken in einer allgemeinpsychiatrischen Klinik. Auch deshalb ist in diesem Bericht zumeist von „Patienten" die Rede und nicht von Insassen. Auch Strafgefangene sind sie nicht, weil sie nicht zur Bestrafung, sondern zur Therapie und zum Schutz der Allgemeinheit hier sind.

Fünf Stationen und 90 Patienten

Auf dieser Station leben 20 Männer, die an einer Persönlichkeitsstörung leiden, deren Gefühlsleben und Verhalten extrem in bestimmte Richtungen verschoben und fixiert sind. Davon gibt es noch eine zweite Station. Ferner sind auf zwei Stationen Patienten mit Psychosen untergebracht, also Menschen mit Wahrnehmungsstörungen. Eine 5. Station widmet sich den Reha-Patienten, die auf eine Entlassung hinarbeiten. Insgesamt sind in der Forensik 90 Männer untergebracht

Schröer führt mich durch die zwei Wohngruppen dieser Station. Die Patienten leben zumeist in Zweibett-Zimmern. An den Wänden hängen persönliche Fotos und Poster - wie an allen Wänden der Welt, zwischen denen einsame Männer leben. Alle Patienten haben ihre Zimmer mit Fernsehern ausgestattet. Zwei Klappen an der Tür dienen der Sichtkontrolle und der Übergabe von Gegenständen, wenn die Patienten nachts eingeschlossen sind.

 Irrationale Gefühle

In den Aufenthaltsräumen sitzen einige Patienten und unterhalten sich. Was ist, wenn sie aggressiv werden, wenn sie uns gar angreifen? Meine Gefühle sind irrational, doch kann ich sie nicht unterdrücken. „Wir sehen zuerst den Menschen", erklärt Schröer die Einstellung des Personals gegenüber den Patienten. „Wenn ich nur daran denken würde, dass jemand drei Morde begangen hat, könnte ich ihm keinen guten Morgen wünschen." Die Patienten schauen zu uns rüber, sie grüßen kurz und reden weiter.

Einige schwere Kaliber

Die Patienten haben ihre Taten begangen, weil sie psychisch krank sind – sie waren angeklagt wegen Körperverletzung, Erpressung, Diebstahl, Tötung, Brandstiftung, Sexualstraftaten. Nur wenn das Gericht ihre Schuldunfähigkeit oder eine verminderte Schuldfähigkeit feststellt, ordnet es laut Paragraf 63 der Strafprozessordnung ihre Unterbringung im so genannten Maßregelvollzug, umgangssprachlich Forensik, an, und nicht im Strafvollzug, kurz Gefängnis. Wer für seine Taten voll verantwortlich gemacht werden kann, komm hier nicht herein.

Aus Sicherheitsgründen müssen die Patienten für viele Alltagswünsche einen Antrag stellen: Eine DVD anschaffen, Geld für eine Winterjacke abheben, das selbst gebaute Regal im Zimmer aufstellen. Auch Kontakte nach draußen sind mit einem Antrag verbunden: Antrag auf Besuch, auf Ausgang, auf die Zusendung von Paketen. Mit Inbrunst warten sie auf die Postausgabe. Die Patienten erhalten 100 Euro pro Monat für persönliche Ausgaben, können sich aber noch was dazu verdienen als Wäsche- und als Küchenarbeiter oder in der Arbeits- und Beschäftigungstherapie.

„Bessern und Sichern"

„Bessern und Sichern" sind die beiden gesetzlichen Aufgaben der Forensik. Die Gesellschaft wird vor den seelisch kranken Straftätern geschützt – außerdem wird alles getan, um ihren Krankheitszustand zu bessern. Freiheit winkt erst, wenn eine Therapie erfolgreich war. Wenn keine Therapie anschlägt, bleiben sie womöglich ein Leben lang – ein Aufenthalt mit open end.

Stufen der Lockerung

Wer von den Patienten das laue Lüftchen schnuppern will, das von der Halde herüberweht, der muss deutliche Therapiefortschritte erzielen. Bevor das Gericht einen Patienten auf Bewährung entlässt, muss dieser seine Fortschritte in vier aufeinander aufbauenden Ausgangsstufen unter Beweis gestellt haben:

  • Stufe: 1:1-Begleitung außerhalb der Einrichtung: Ein Mitarbeiter geht mit einem Patienten mit.
  • Stufe: 1:4-Begleitung = vier Patienten mit einem Mitarbeiter.
  • Stufe: Einzelausgang
  • Stufe: Beurlaubung (Betreutes Wohnen im Wohnheim oder eigener Wohnung mit ambulanter Nachsorge durch Forensik-Fachleute)

Ein gut durchdachtes System, dass in Herne zumeist funktioniert. Nur einmal setzte sich ein allerdings nicht gewalttätiger Patient von seinem Begleiter ab und irrte ein paar Stunden durch die Stadt.

Krisenraum für Aggressive

Forensik-17-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Der Krisenraum mit Toilettenanlage und Matratze. © Stadt Herne, Horst Martens

Immer noch auf dem Rundgang, öffnet mir mein Begleiter die Tür zu einem Raum, der durch seine Kahlheit geradezu schockierend wirkt. Der Krisenraum. An der Wand steht eine Matratze, umhüllt mit einem Kunststoffbezug. Das einzige fest installierte „Möbelstück" ist eine Toilette aus Edelmetall mit glatten Flächen. Ein kleines Sprechanlagen-Board ermöglicht die Kommunikation. In den Krisenraum kommen Patienten, die in eine akute psychische Krise geraten und dabei sich selbst und andere gefährden. „Meistens können wir solche Krisen weit im Voraus auffangen, weil wir die Patienten und ihre Krankheitsmerkmale gut kennen und die Warnzeichen sehen", erklärt Schröer. Wenn es aber brenzlig wird, dann hilft es, den Betroffenen in dem kahlen und verletzungssicheren Raum für eine gewisse Zeit abzuschotten, damit er sich beruhigen kann.

In einem anderen Raum fällt eine Fixiermatratze auf. Wichtigstes Accessoire sind Gurte. „Die werden benutzt, wenn es anders nicht möglich ist, einen Menschen in einer akuten psychischen Krise unter Kontrolle zu bringen", sagt Schröer und fügt hinzu, dass eine solche Fixierung niemals eine Dauermaßnahme sei.

Ruhe an 340 Tagen im Jahr

„Im Normalfall lösen wir aber die Konflikte mit anderen Mitteln", unterstreicht Schroer, „340 Tage im Jahr ist alles ruhig." Für die restlichen 20 Tage muss die Klinik gerüstet sein. Für den Ernstfall einer Geiselnahme zum Beispiel sind mehrere Mitarbeiter speziell geschult worden. Die Forensik ist ein potentiell gefährlicher Ort. 100 Prozent Routine herrscht nie: „Wir müssen immer mit offenen Ohren und offenen Augen durch unsere Welt gehen", wissen Schröer und seine Mitarbeiter.

Forensik-07-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Mit kleinen speziellen Funkgeräten sind die Mitarbeiter ausgestattet, sogenannte Personenschutzmelder. © Stadt Herne, Horst Martens

Mit kleinen speziellen Funkgeräten sind die Mitarbeiter ausgestattet, sogenannte Personenschutzmelder. Wenn das Gerät länger bewegungslos liegt (für den Fall, dass ein Mitarbeiter überwältigt wurde), fängt es an zu piepsen. Auf dem Display aller anderen Melder steht dann der Ort, an dem der Alarm ausgelöst wurde. „In ein paar Sekunden stehen dann 15 Mann hier", sagt Schröer.

Besprechung vor der Visite

Forensik-16-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Die Visitenvorbesprechung u.a. mit Diplom-Psychologe Burkhard Kensy, Oberärztin Dr. Ragnhild Rössing und Krankenpfleger Mario Schöer. © Stadt Herne, Horst Martens

Diplom-Psychologe Burkhard Kensy

8:30 ist Personalfrühstück, danach Visitenvorbesprechung. Rund zehn Männer und Frauen, Ärzte, Psychologen, Pfleger und Sozialarbeiter, setzen sich zusammen, tauschen ihre aktuellen Erfahrungen mit den Patienten aus. Ich höre von Menschen, die schon als Heroinkind aufwachsen. Von Eltern, die Gewalt anwenden. Von Alkoholkonsum, Missbrauch, falschen Freundeskreisen. Von Patienten, die keine Fortschritte bei der Bezugstherapeutin erzielen. Aber auch von Patienten, die auf einem guten Weg sind. Die Fortschritte erzielen und irgendwann in der Reha-Station landen werden.

„Ich bin unschuldig" – auch diesen Satz hören die Fachleute bisweilen. Die Mitarbeiter müssen den Kriminalfall nicht lösen, denn sie „arbeiten mit dem, was Gutachter und Gerichte entschieden haben." Aber nichts ist fest zementiert. Einmal im Jahr wird bei einer gerichtlichen Anhörung überprüft, ob die Unterbringung im Maßregelvollzug weiterhin rechtmäßig und verhältnismäßig ist..

Der Zeitfaktor ist ein Vorteil

Klingt seltsam, aber in Bezug auf die Therapieerfolge steht die Forensik laut Oberärztin Dr. Ragnhild Rössing, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, gut da: Anders als häufig in der „normalen" Psychiatrie" stehe in der Forensik viel Zeit für eine tiefgreifende Therapie zur Verfügung. „Der Zeitfaktor kann ein großer Vorteil sein", sagt Rössing.und erklärt: „ Ärzte und Pfleger lernen den Patienten erst richtig kennen, wenn er ein halbes Jahr auf der Station ist. Dann können wir ihn sehr genau beobachten, behandeln und einschätzen."

In der Forensik liegt die mittlere Verweildauer bei acht Jahren. In diesem Zeitraum werden Beziehungen aufgebaut, die im Sinne der so genannten Sozio-/Milieutherapie genutzt werden. Die Institution, Forensik wird als eine zeitliche Lebensgemeinschaft gesehen, und das quasi-familiäre Miteinander wird therapeutisch genutzt. Rössing: „Die Erfolgsaussichten im Maßregelvollzug sind höher durch die Therapie und die lebenspraktische Hilfe."

Ein „multiprofessionelles" Team arbeitet mit den Patienten – Ärzte, Psychologen, Co-Therapeuten wie Arbeits-, Sport- oder Musikttherapeuten, Krankenpfleger, Erzieher, Sozialarbeiter. „Sie arbeiten Hand in Hand. Die einzelnen Einschätzungen fügen sich zu einem guten Gesamtbild."

Forensik-15-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens K. bei der Visite - rechts Psychologe Burkhard Kensy. © Stadt Herne, Horst Martens

Bei der Visite versammelt sich das Team in einem Gruppentherapieraum mit dem Patienten Herrn K., der nichts gegen die Gegenwart eines Journalisten einzuwenden hat. K. achtet besonders auf sein Aussehen. Schon am Morgen war mir beim Rundgang seine gepflegte Frisur aufgefallen. Jetzt, bei der Besprechung, hat er die Haare hochgesteckt und kunstvoll zusammengeknotet. Als er die Hände beim Gespräch faltet, bemerke ich seine manikürten Fingernägel. Am Anfang solcher Gespräche steht die Deliktbearbeitung. Die Experten wollen den genauen Zusammenhang zwischen Tat und Krankheit feststellen.

Von der "Scheiße, die emotional hochkocht"

Forensik-08-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens K. achtet besonders auf sein Aussehen. Als er die Hände beim Gespräch faltet, bemerke ich seine manikürten Fingernägel. © Stadt Herne, Horst Martens

K. ist seit gut vier Jahren im Maßregelvollzug und hat erste gute Fortschritte erzielt. So wird er in der Holzwerkstatt der Forensik eine Ausbildung als Zimmermann absolvieren, als einer der ersten überhaupt, und steht jetzt auf dem Prüfstand. Mir scheint, dass er bei mir und dem Team einen guten Eindruck hinterlassen möchte. Sein Vergehen ist sexueller Missbrauch. Er sagt: „Ich bin schuldig", aber mehr möchte er mir gegenüber über die Tat nicht äußern. Lieber möchte er über die Therapie sprechen. Von der „Scheiße, die emotional hochkocht" spricht er. Und von der kognitiven Verzerrung, die sich in den Ausreden kundtun, die ein pädophiler Mann formuliert, um in die Nähe eines Kindes zu kommen. Aber K. hat gelernt: „Wenn ich in der Nähe von Kindern bin, sind die für mich gefährlich", sagt er und korrigiert sich sofort: „Nein, ich bin dann für sie gefährlich, wieder kognitive Verzerrung." Er weiß, dass er gegenüber dem Team auch seine Zuverlässigkeit beweisen muss: „Ein Teilziel der Therapie ist, dass ich mich an die Absprachen halte." Und zum Schluss bewertet er die Therapie optimistisch: „Man kann alles aufarbeiten."

Werkstatt – Ausbilden für die Zeit danach

Forensik-06-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Arbeitstherapeut Andreas Gerhard hat Patienten und Werkzeuge ständig im Blick. © Stadt Herne, Horst Martens

In der Holzwerkstatt (außerdem gibt es Metall- und Keramikwerkstätten) begrüßt uns der Zimmermann und Arbeitstherapeut Andreas Gerhard, der K. ausbilden wird. Bis zu acht Patienten gleichzeitig betreut Gerhard, stellt mit ihnen Möbel für die Klinik oder Kleinteile wie Nistkästen oder Krippen her, die zum Beispiel auf dem Handwerkermarkt verkauft werden. Auch private Auftragsarbeiten sind möglich. An einer Holzwand hängen zahlreiche Werkzeuge – Hammer, Meißel, Hobel, Säge -, die man gut als Waffe oder Ausbruchswerkzeug benutzen könnte. Auf der Holzwand sind die Formen der Werkzeuge nachgezeichnet, so dass der Arbeitstherapeut sofort merkt, wo was fehlt. Angst hat Andreas Gerhard nicht. „Die Patienten sind in der Therapie und haben über Jahre Kredit gesammelt. Beim Verlassen der Werkstatt werden sie streng kontrolliert." Außerdem wollen die Patienten sich das Privileg, hier arbeiten zu dürfen, nicht verscherzen. Das sieht auch K. so, der uns in die Werkstatt begleitet hat: „Ich habe einen Realschulabschluss und nichts anderes". Mit einem Gesellenbrief in der Tasche käme er „da draußen" schon viel besser klar.

Schröer und K. begleiten mich zur Sporthalle, in der jetzt gerade nichts los ist, aber sonst Gymnastik, Tischtennis, Badminton oder Fußball gespielt werden. „Das Sporttreiben ist immer auch Mittel zum Zweck", erklärt Schröer den Sinn dieser Einrichtung. Die Patienten lernen, miteinander umzugehen und der Sporttherapeut beobachtet, wie sie sich entwickeln.

„Die sehen dich, die beobachten dich"

Forensik-05-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Wenn der Patient von der Arbeitstherapie zurückkehrt, muss er noch mal abgescannt werden. © Stadt Herne, Horst Martens

K. wird plötzlich redselig und schweift vom Thema „Sport" ab. Er erzählt von einer „Ausführung" – so heißt es im Fachjargon, wenn ein Patient, der noch keinen Ausgangsstatus hat, die Einrichtung unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen für einen speziellen Anlass – etwa einen Gerichtstermin - verlassen darf. K. feierte – ständig von zwei Begleitern gefolgt – die Hochzeit seiner Mutter. „Es war ein besonderer Tag", resümiert K. ergriffen. „Man möchte keinen Fehler begehen. Die sehen dich, die beobachten dich. Ich habe immer nachgefragt, ob ich mich richtig verhalte. Aber die Hochzeit war einzigartig. Ich hatte das Gefühl, wieder ein Teil der Familie zu sein."

Bei der Führung kommen wir an der Reha-Station vorbei. Die hier lebenden Patienten sind ihrem Ziel, die Klinik für immer zu verlassen, schon viel näher gekommen. Keine Gitter mehr vor den Fenstern. Und ein großer Balkon liefert schon einen Vorgeschmack auf die große Freiheit.

Problematische Kindheit

Forensik-04-©-Stadt-Herne,-Horst-Martens Gespräch mit Diplom-Psychologe Burkhard Kensy. © Stadt Herne, Horst Martens

Diplom-Psychologe Burkhard Kensy empfängt mich zu einem Gespräch. „Viele unserer Patienten sind unter sehr schwierigen Bedingungen aufgewachsen", sagt er. Dadurch sei häufig die Entstehung von psychischen Erkrankungen begünstigt worden. „Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die viel Unrecht erfahren haben und dieses Unrecht weitergeben," erklärt Kensy. Das könne nichts entschuldigen, aber vieles erklären. Ein Ziel der Therapie bestehe darin, ein Gefühl für soziale Verantwortung und Mitgefühl zu wecken, damit diePatienten nicht rückfällig werden, wenn wieder in die Gesellschaft integriert werden. „Die meisten Patienten stehen aber erst am Anfang ihrer Therapie." Sie sind nach Herne gekommen, nachdem die Klinik hier vor drei Jahren (2011) eröffnet wurde.

Skeptische Öffentlichkeit

„Für die Menschen, die hier eingeliefert werden", so Kensy, „gilt zunächst ‚Open end‘. Als Mörder im Gefängnis können Sie ziemlich sicher sein, dass Sie nach spätestens 16 Jahren rauskommen. Unsere Patienten haben kein Enddatum. Ob und wann sie entlassen werden hängt allein vom Therapieerfolg ab." Dennoch ist die Öffentlichkeit häufig skeptisch gegenüber Kliniken wie dieser und argwöhnt Freigänge mit fatalen Folgen. Dazu Kensy: „Fakt ist, dass in der Nähe von Forensiken nicht mehr Straftaten geschehen als anderswo. Wir lassen die Täter nicht achtlos in der Gegend rumlaufen. Jede Ausgangsstufe ist mit hohen Hürden verbunden"

Gemüseauflauf mit Anstaltbewohnern

Dann wird mir das Privileg zuteil, zusammen mit den Patienten und Pflegern das Mittagessen zu genießen, einen hervorragend mundenden Gemüseauflauf, der von den Patienten zubereitet wurde. Auch hier gelten im Umgang mit Messer und Gabeln dieselben Sicherheitsvorkehrungen wie in der Holzwerkstat. Nicht alle Patienten kochen. Ich bin von einer Selbstversorgungsgruppe (SVG) eingeladen, die sich aus vier freiwilligen Teilnehmern und einem Pfleger zusammensetzt. Auch hier ist K. dabei. Sie erzählen von dem Kuchenabend, den sie manchmal veranstalten, von der Theatergruppe und vom „Forum 63", der von Patienten herausgegebenen Zeitschrift, die demnächst erscheinen soll. Die „63" bezieht sich auf den Paragrafen der Strafprozessordnung, die bei Schuldunfähigkeit die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus anordnet. Auch die Selbstversorgung ist dem einen Ziel verschrieben: dass die Patienten lernen, ein straffreies Leben zu führen.

... und dann öffnet sich die Tür

Das Essen hat gemundet – und langsam neigen sich die „Schicht" und mein Aufenthalt dem Ende entgegen. Bevor ich gehe, muss ich zahlreiche Dokumente unterschreiben. Und dann öffnet sich die Tür. Ich gehe ins Freie und atme tief durch.

Text und Fotos: Horst Martens