Alessia Boschmann arbeitet nachts in der LWL-Maßregelvollzugsklinik
Wenn sich andere längst auf der Couch entspannen, schließt sich hinter Alessia Boschmann eine Tür. Nur so öffnet sich die Tür vor ihr, denn sie wird gerade „eingeschleust“. So nennt sie es, wenn sie für ihre Nachtschicht gegen 20:30 Uhr die Pforte der LWL-Maßregelvollzugsklinik passiert. „Selbstständig kommt man hier nicht rein oder raus“, betont Boschmann.
Die 37-Jährige arbeitet seit acht Jahren in der Klinik in Bickern. Hier ist Platz für 90 Männer, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung Straftaten begangen haben. Das Gericht hat sie deshalb als vermindert oder nicht schuldfähig beurteilt und zur Therapie und Sicherung in eine speziell gesicherte psychiatrische Klinik eingewiesen. Brandstiftung, Körperverletzungen, Tötungsdelikte, Sexualstraftaten – die Liste der Delikte ist lang und vielfältig. Insgesamt hat die Klinik fünf Stationen. Die Krankenpflegerin arbeitet auf Station 4. Hier sind aktuell 24 Männer untergebracht. 24 Männer, die persönlichkeitsgestört sind und größtenteils eine Störung der sexuellen Präferenz haben.
„Selbstständig kommt man hier nicht rein oder raus.“
Nachtschichten gehören dazu
Im Durchschnitt werden die Männer acht Jahre in der Maßregelvollzugsklinik behandelt. Einige sind deutlich kürzer hier, andere länger – manche für immer. Es ist genau diese Arbeit mit den persönlichkeitsgestörten Patienten, die andere scheuen würden, aber die Alessia Boschmann gerne macht. „Ich habe an der Hochschule für Gesundheit in Bochum Pflege studiert“, erzählt sie. Ein Praktikum in der LWL-Maßregelvollzugsklinik habe sie dann überzeugt. Sie bewarb sich nach dem Studium und arbeitet nun als so genannte Pflegespezialistin. Sie berät Kolleg*innen, entwickelt pflegetherapeutische Maßnahmen und ist verantwortlich für die Gesamtpflegeplanung der Station. „Wir beobachten Verhalten und Interaktionen und beschreiben es, damit unsere Psychotherapeuten Informationen aus Situationen bekommen, die für die Therapie und die Beurteilung des Patienten wichtig sind. Das ist wichtig für die Gefährlichkeitsprognosen. Hier arbeiten Pflege und Ärzte Hand in Hand.“ Und dazu gehören natürlich auch Nachtschichten.
Einschluss ist um 21:45 Uhr
Die Nachtschichten starten um 20:30 Uhr und enden um 6:30 Uhr. Zuerst gibt es eine Übergabe von der Spätschicht. „In der Regel versucht man sich kurz zu halten, aber man geht jeden Patienten durch.“ Danach können die Männer ihre Medikamente für die Nacht abholen oder Boschmann bringt sie ihnen. Schlaffördernde Medikamente oder welche gegen somatische Beschwerden werden auf ärztliche Anordnung verteilt. Um 21:45 Uhr ist dann Einschluss. Wie auf allen Behandlungsstationen der Klinik gehen die 24 Männer von Station 4 dann in ihre Einzel-, aber meist in ihre Doppelzimmer und die Türen werden abgeschlossen. Kommunikation gibt es dann nur noch durch die Klappen in den Türen, falls nötig. Denn ab 22 Uhr hat auch der Spätdienst Feierabend und Boschmann ist alleine auf Station 4 verantwortlich. So ist es auch auf den anderen Stationen: Insgesamt arbeiten nachts vier Pfleger*innen in der gesamten Klinik, eine Person pro Behandlungsstation, zwei weitere sind in Bereitschaft vor Ort. Außerdem ist auch die Pforte als einziger Ein- und Ausgang der Klinik die ganze Nacht mit einer Person besetzt. „Manche Patienten schauen dann Fernsehen, spielen Konsole, puzzeln oder unterhalten sich. Eigentlich machen die Patienten das, was man auch zuhause machen würde, um zu entspannen“, so Boschmann. Aber all das darf natürlich nur so laut sein, dass auch alle, die schlafen möchten, dann auch schlafen können.
Alessia Boschmann.
„Wir brauchen eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung und müssen dennoch Distanz wahren.“
Krisensituationen gibt es selten
Für die Bochumerin geht dann die Schreibarbeit los. An ihrem Arbeitsplatz in der Mitte der Station schreibt sie dann Behandlungspläne, macht Pflegedokumentationen, schreibt Konzepte, faxt Essensbestellungen und erstellt To-Do-Listen. „Ich mache alles, was ich tagsüber nicht schaffe. Die Nächte sind bei uns recht unspektakulär. Manchmal wird die Rufanlage von Patienten betätigt, wenn sie beispielsweise Medikamente brauchen.“ Nur ganz selten käme es zu Krisensituationen. Das sind meist Personen, die neu im Maßregelvollzug untergebracht sind: „Das äußert sich dann in Unruhezuständen, Auf- und Ablaufen, Schreien bis hin zu selbstverletzendem Verhalten.“ Für diese Menschen ist dann das Kriseninterventionszimmer eine Möglichkeit, um erstmal in der neuen Situation anzukommen. In diesem abgeschirmten Raum können einzelne Patienten für eine begrenzte Zeit und nur auf ärztliche Anordnung und richterliche Zustimmung von den anderen isoliert werden und zur Ruhe kommen.
Die Straftaten, die die Männer in die Klinik gebracht haben, kennt Alessia Boschmann. „Die müssen wir auch kennen. Im Gegensatz zu den anderen Stationen haben die Patienten auf unserer Station größtenteils Sexualdelikte begangen – zu Ungunsten von Minderjährigen und Frauen, selten auch Männern.“ Angst habe sie keine, wenn sie zur Arbeit geht – „sonst könnte ich nicht mehr kommen“. Ihr Schutz sei neben dem sogenannten PNG, was für Personennotrufgerät steht und verschiedene Alarme auslösen kann, der Aufbau einer professionellen Beziehung zu den Patienten. „Wir sind natürlich auch in Deeskalation geschult. In den acht Jahren gab es keine Situation, in der ich dachte, nicht mehr Herrin der Lage zu sein. Aber natürlich muss ich aufmerksam und achtsam sein.“ Die Patienten seien nicht leicht einschätz- und berechenbar. Sie sei sich den Risiken bewusst.
Kaffee hilft mitten in der Nacht
Anfänglich habe sie bei Nachtschichten schon ein „mulmiges Gefühl“ gehabt. Richtig erschrocken habe sie sich, als das erste Mal elektronische Rollos runtergefahren seien und sie das Geräusch nicht einordnen konnte. Aber generell mag Boschmann die Nachtschichten gerne: „Ich bin eh eine Nachteule, mir fällt das nicht schwer.“ Tagsüber sei alles viel trubeliger, dann kommen viele Patienten mit Anliegen auf sie zu, viele Maßnahmen werden gemacht und an Schreibarbeit sei nicht zu denken. Manchmal wird sie auch mit gutem Essen versorgt: Die untergebrachten Männer, die sich in der großen Küche der Station selbst versorgen, lassen ihr schon mal eine Portion für die Nachtschicht über. Irgendwann zwischen 3 und 4 Uhr morgens sei es manchmal schwierig wach zu bleiben, aber dann helfe ihr Kaffee.
Ein wichtiges Thema in ihrer Arbeit ist das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz zu den Patienten. „Wir sind immer da und häufig der Ersatz für Familie und Freunde. Wir sind die erste Anlaufstelle und spenden auch Trost in schwierigen Situationen. Wir brauchen eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung und müssen dennoch Distanz wahren“, erklärt Boschmann. Dafür sei professionelle Reflexion des eigenen Verhaltens sowie regelmäßige Supervision wichtig.
Bis spätestens 6:30 Uhr kommen die Kolleg*innen für die Frühschicht. „Die bringen gleich den Brötchenkorb von der Pforte mit, danach folgt noch eine Übergabe und dann geht es für mich ab ins Bett.“ Wenn dann die Patienten und der Tagdienst wieder Leben auf die Flure, den Raucher- und Fernsehraum, die Therapieräume und das Gelände bringen, schläft Alessia Boschmann bis 15 Uhr, um bald wieder fit zu sein für die nächste Schicht, wenn sie wieder eingeschleust wird.