Tage Alter Musik in Herne 2016

Wie Werthers Leiden heute wirken

12. November 2016 | Gesellschaft Kultur

Musik und Briefpassagen

Mit dem Briefroman "Die Leiden des jungen Werther", erschienen im Jahre 1774, wurde Goethe weltberühmt. Der Rechtspraktikant Werther schildert darin seinem besten Freund Wilhelm, dass er sich "unsterblich" in Lotte verliebt hat. Da Lotte jedoch verlobt ist, und keine Anstalten macht, das Verhältnis zu lösen, ist kein Happy End in Aussicht. Werther erträgt das Leben nicht mehr und macht Schluss. Gaetano Pugnani hat 1796, also 22 Jahre nach Erscheinen des Romans, das Melodram "Werther" verfasst, ein Mix aus Musik und Buch-Passagen. Das Stück ist eine "Hommage" Pugnanis an Goethes Meisterwerk und passt somit thematisch in die diesjährige Ausgabe der "Tage alter Musik in Herne".

  • Werther (Nils Beckmann) vor seinem tragischen Ende. © Thomas Kost, WDR
Die gelbe Weste

Den großen Teil der Bühne belegt bei dieser deutschen Erstaufführung das Main-Barockorchester Frankfurt. Auf der rechten Seite steht ein barocker Schreibschrank. Das ist das komplette Bühnenbild. Den szenischen Part besetzen die Herner Schauspieler-Brüder Nils (Werther) und Till (Wilhelm) Beckmann sowie Greta Schareck, die Lotte verkörpert. Nils Beckmann, in beiger Hose, hellem Hemd und Halstuch, sitzt an seinem Schreibtisch und liest aus seinen Briefen an seinem Freund Wilhelm vor, der bisweilen auf der linken Seite der Bühne auftaucht und die Briefe kurz kommentiert. Warum trägt Werther keine gelbe Weste - dieses Kleidungsstück war Bestandteil der Werther-Mode im 18. Jahrhundert. Aber soweit wollte die Inszenierung nicht gehen. Charlotte, in knallrotem Rock und schwarzer Bluse, hat nur zwei kurze Auftritte. Auf der Bühne kommt es zwischen ihr und Werther zu keiner körperlichen Berührung, sie sehen sich kaum an.

Musik transport die Handlung

Nicht die Inszenierung steht im Mittelpunkt dieser Regiearbeit von Uwe Schareck, sondern die Leistung des Barockorchesters, das Stimmung, Gemütszustand, Emotionen, emotionale Steigerung bis zur Raserei auffängt und in Musik überträgt. Die Beckmann-Brüder und Greta Schareck machen uns die Musik verständlich, sie lassen uns nachempfinden. Die Schilderung idyllischer Landschaft, der erste Kontakt mit Lotte auf einem Ball, das Entdecken der Seelenverwandtschaft bei einem Gewitter, die sich entwickelnden starken Gefühle, der Abschied von Lotte und die Wiederkehr, die große Enttäuschung, als Werther von der Heirat erfährt, Küsse und Umarmungen, leidenschaftlicher Höhepunkt, dann die Ablehnung Lottes ("Es ist das letzte Mal, Werther, wir sehen uns nie wieder!") und zum Schluss die Entscheidung, mit dem Leben Schluss zu machen - all das transportiert die Musik Pugnanis, interpretiert vom Barockorchester. Oft überlagern die musikalischen Passagen die Rezitation Nils Beckmanns - oder umgekehrt. Als Werther am Schluss die Pistole in die Hand nimmt, hält das Publikum den Atem an. Doch die Zuschauer werden nicht Zeugen des selbstmörderischen Aktes. Als es knallt, hat Nils Beckmann längst die Bühne verlassen.

Mehr Infos zu den Tagen alter Musik in Herne 2016 / TAMIH im WDR

Was interessiert heute an Werther?

"Die Leiden des jungen Werther" kommt in Herne in diesem Monat nochmal auf die Bühne, und zwar in einer gekürzten Fassung des Gelsenkircher Consol-Theaters für junge Leute im Rahmen des Spielarten-Festivals. Es fragt sich, ob es etwas gibt, das gerade Jugendliche heute an "Werther" interessiert. Die pathetische Sprache kann es kaum sein. Denn Sätze wie

Wenn sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige liegt und im Interesse der Unterredung näher zu mir rückt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen kann: Ich glaube zu versinken ...

hören sich fremd an. Dennoch ist was dran an diesem Stück intonierter "amour fou". In der heutigen kommerzialisierten Welt der One-Night-Stands ist die Abwesenheit leidenschaftlicher Liebe genauso ein Thema wie im 18. Jahrhundert, in der Liebe oft nur eheliches Arrangement war. Wie wird das Publikum das Stück empfunden haben? "Ich war skeptisch ...", sagte ein Zuschauer beim Verlassen des Saals, wobei der zweite Teil des Satzes leider verloren ging, man kann davon ausgehen, dass die Skepsis sich in Luft aufgelöst hat. Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda zeigte sich beim Empfang der Stadt Herne für die Tage Alter Musik "sehr beeindruckt: Heute Abend wurden Musik und Text auf unbeschreibliche und sehr intensive Weise miteinander verschmolzen."

Der Werther-Effekt ist in der modernen Soziologie ein fester Begriff, der davon ausgeht, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem Selbstmord, über die in den Medien ausgiebig berichtet wird, und der Steigerung der Selbstmordrate gibt. So sei nach der Berichterstattung über den Selbstmord des Fußballers Robert Enke die Zahl der Schienensuizide angestiegen.

Horst Martens