Flüchtlinge

Auf der Flucht

20. November 2015 | Gesellschaft

Sie beginnt etwa 4.000 Kilometer  entfernt in Aleppo. Die zweitgrößte syrische Stadt ist die Heimat der kleinen Familie. Und würde dort nicht dieser schreckliche Bürgerkrieg wüten, wäre das auch heute noch so. Das Beamtenehepaar führte bis 2011 ein normales Leben. Sie arbeitete als Steuerprüferin beim Finanzamt, er als IT-Experte im Rathaus von Aleppo. Mit Kriegsbeginn änderte sich alles. „Vor drei Jahren schlug eine Rakete genau vor dem Rathaus ein, 18 Menschen starben, ich war acht Tage bewusstlos", erinnert sich der 38-Jährige nicht nur an dieses, sondern an viele grauenhafte Erlebnisse. Die Heimat zu verlassen, kam dennoch lange Zeit nicht in Frage.

Sieben Stunden Angst im Schlauchboot

„Unsere beiden Kinder kamen während des Krieges zur Welt. Wir hatten die Hoffnung, dass es besser wird", sagt die 36-Jährige mit leiser Stimme und fügt hinzu: „Ich bin die erste, die zurückfährt, wenn sich die Situation ändert." Syrien will sie so schnell wie möglich wiedersehen. Bei ihrem Arbeitgeber hat sie sechs Monte unbezahlten Urlaub eingereicht, bevor die dramatische Flucht begann. Die ersten vier Versuche, mit Hilfe der Schleuser in die Türkei zu gelangen, schlugen fehl. Beim fünften Mal kam abends wieder der Anruf: „In zwei Stunden geht es los." Anfang August ging es dann zu Fuß von Aleppo ins 25 Kilometer entfernte Kilis in der Türkei. Mit einem Bus fuhren sie weiter nach Izmir. Von hier aus versuchen viele Flüchtlinge, Griechenland über das Mittelmeer zu erreichen und somit die Europäische Union. Ahmad Hesso und seine Frau Nora werden die mehr als sieben Stunden in dem kleinen, überfüllten Schlauchboot wohl nie vergessen. Besonders die Angst um die Tochter (2) und den Sohn (1) muss schrecklich gewesen sein. Nicht viel anders dürfte die Gefühlslage bei den anderen 15 Erwachsenen mit ihren 16 Kindern ausgesehen haben.

Die Fluchtroute. Von Aleppo bis Herne. © Grafik, Frank Dieper Die Fluchtroute. Von Aleppo bis Herne. © Grafik, Frank Dieper

Mit der Fähre nach Thessaloniki

Die Angst vor dem Kentern war zu groß. „Die Wellen waren sehr hoch, es war mitten in der Nacht und sehr gefährlich für uns", erklärt Ahmad Hesso. Besonders tragisch, die paar Sachen, die sie noch auf ihrer Flucht mitnahmen, haben sie während der Fahrt über Bord geworfen, weil sie befürchteten, dass das Boot durch das Gewicht der vielen nassen Sachen zu schwer würde. Glücklicherweise sind zumindest alle aus dieser Gruppe gerettet worden. Von den griechischen Behörden wurden sie auf dem Wasser aufgegriffen oder besser gesagt gerettet. Denn die verängstigten Flüchtlinge riefen vom Schlauchboot aus selber um Hilfe, weil die Wellen bedrohliche Ausmaße annahmen. Doch das Ziel Deutschland – dort hat die Familie viele Verwandte – war damit natürlich noch nicht erreicht, viele Strapazen standen noch bevor. Nach einer Nacht im Freien ging es nach einer Fähre nach Thessaloniki, von dort ging es mit dem Bus weiter nach Mazedonien.

In einem Park in Belgrad geschlafen

Nach einer Nacht und einem Tag in Mazedonien hieß das nächste Ziel Serbien. An Serbien haben die Flüchtlinge keine guten Erinnerungen. „In Serbien mussten wir 14 Stunden in einer Schlange stehen. Das war für mich der schlimmste Weg nach Europa", erklärt der Familienvater. In Belgrad schlief die Familie in einem Park, bevor es weiter nach Budapest ging. Sieben Tage dauerte der Fluchtweg in Ungarn, erst dann war Österreich erreicht. Von dort ging es mit dem Zug nach München. „In Deutschland wurden sie dann richtig herzlich empfangen", sagt Ahmad Hesso. Ein Gefühl, dass ihnen während der Reise durch die anderen Länder nicht immer entgegenschlug. In München hat Hesso einen Bruder, der Medizin studiert. Die Freude beim Wiedersehen war groß, aber nur von kurzer Dauer. Die Familie konnte nur einen Tag bleiben, dann ging es weiter mit dem Zug nach Bonn. Beide Elternteile waren zuvor noch nie in Deutschland. Und wäre es in Syrien friedlich geblieben, würden sie noch heute in Aleppo leben. Denn eines ist beiden anzumerken, sie lieben ihre Heimat und haben sie nur wegen der ständigen Bedrohung verlassen.

„Die Hauptsache ist, uns fallen keine Bomben auf den Kopf"

In Herne sind sie seit Anfang September. In der Notunterkunft der Bezirksregierung haben sie in der Zwischenzeit ein neues Zuhause gefunden haben. „In der Halle machen alle einen guten Job. Das Essen ist gut, wir bekommen sogar Milch und Windeln für die Kinder", so der 38-Jährige, der einfach nur froh, nicht bei jedem Schritt nach oben schauen zu müssen, ob die nächsten Bomben am Himmel zu sehen sind. „Wir sind froh, dass wir hier sind. Wir vermissen zwar unsere Heimat und auch unsere Jobs. Denn für das Geld, das ich von der deutschen Regierung bekomme, möchten wir etwas anbieten. Wir sind es nicht gewöhnt, Hilfe zu bekommen. Aber die Hauptsache ist, dass uns keine Bomben auf den Kopf fallen", sind sich alle vier einig. Nach der festen Zuweisung wollen sie so schnell wie möglich eine kleine Wohnung für sich finden und die deutsche Sprache lernen.

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Text: Michael Paternoga